Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlöschen des Arbeitslosengeldanspruchs. Versäumung der Ausschlussfrist. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. pflichtwidriges Verwaltungshandeln. Beseitigung durch Amtshandlung. Fehlen der Anspruchsvoraussetzung. Anwartschaftszeit. Arbeitslosmeldung. Verfügbarkeit. Treu und Glauben
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld kann nach § 161 Abs 2 SGB 3 nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen sind.
2. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt nicht nur eine Pflichtverletzung der Behörde voraus, sondern verlangt zusätzlich, dass der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil auch durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden kann.
3. Jedenfalls dann, wenn eine tatsächliche und für die Beklagte unverfügbare Anspruchsvoraussetzung - wie vorliegend die Verfügbarkeit - nicht vorliegt, bleibt es dabei, dass die damit verbundenen gesetzlichen Folgen nicht über einen Herstellungsanspruch korrigiert werden können.
Normenkette
SGB III § 137 Abs. 1, §§ 138, 141 Abs. 1 S. 1, §§ 142, 161 Abs. 2; SGB I §§ 14-15; SGB X § 27
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 8. Juli 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Arbeitslosengeld.
Die 1980 geborene Klägerin war vom 1. November 2008 bis 30. November 2010 sozialversicherungspflichtig beim Deutschen C. in C-Stadt beschäftigt. Danach war sie arbeitslos und bezog vom 1. Dezember 2010 bis 31. Dezember 2010 und vom 25. März 2011 bis 3. April 2011 für insgesamt 40 Tage Arbeitslosengeld mit einem Restanspruch von 320 Kalendertagen.
Am 4. April 2011 nahm sie eine Beschäftigung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am D. Institut in D-Stadt auf. Von dort kehrte sie am 5. Dezember 2014 nach Deutschland zurück. Die Klägerin meldete sich dann am 8. Dezember 2014 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld.
Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. Dezember 2014 unter Bezugnahme auf § 137 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) mit der Begründung ab, der am 1. Dezember 2010 erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld sei erschöpft. Seither sei die Klägerin weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig gewesen und habe daher keine neue Anwartschaftszeit erfüllt.
Gegen die Ablehnung legte die Klägerin Widerspruch ein und trug vor, eine Mitarbeiterin der Beklagten habe ihrer Mutter auf Anfrage am 1. September 2014 ausdrücklich erklärt, es bestehe ein Anspruch auf Arbeitslosengeld noch für 320 Tage und dieser Anspruch müsse bis zum Ende des Jahres 2014 persönlich bei der Arbeitsagentur in Büdingen beantragt werden. Diese telefonische Auskunft sei als Aktennotiz von der bei dem Telefonat anwesenden Sekretärin ihrer Mutter, Frau E., schriftlich fixiert und zusammen mit anderen ebenfalls relevanten Informationen an sie nach D-Stadt weitergeleitet worden. Im Vertrauen auf die erteilte Auskunft, dass eine Antragstellung bis zum Ende des Jahres möglich sei, habe sie einer Bitte der Deutschen Botschaft in Tel Aviv entsprochen und eine Veranstaltung für in D-Stadt lebende junge Wissenschaftler am 4. Dezember 2014 durchgeführt. Sie sei dann am nächsten Tag, dem 5. Dezember 2014, nach Deutschland geflogen. Da sie zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Beschäftigung am D. Institut beendet gehabt habe, wäre sie bei korrekter Auskunft vorher bei der Agentur für Arbeit erschienen. Ihrem Widerspruch fügte sie die Ablichtung der Aktennotiz und der E-Mail von Frau E. bei.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2014 zurück. In dem Widerspruchsbescheid wird ausgeführt, eine Auskunft "bis zum Ende des Jahres 2014" sei zeitlich zu ungenau, um hieraus eine fehlerhafte Beratung abzuleiten. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass der Beklagten eine unzureichende Beratung vorzuwerfen sei (wovon sie aber nicht ausgehe), käme eine Gewährung des begehrten Arbeitslosengeldes im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht in Betracht. Mithilfe des Herstellungsanspruchs könne nach ständiger Rechtsprechung ein Fehlverhalten des Leistungsträgers nur insoweit berichtigt werden, als die Korrektur mit dem Gesetzeszweck in Einklang stehe. Rein tatsächliche Gegebenheiten, wie die fehlende rechtzeitige Arbeitslosmeldung könnten nicht über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ersetzt werden (Hinweis auf BSG SozR 4100 § 105 Nr. 2).
Mit der am 22. Januar 2015 vor dem Sozialgericht Gießen erhobenen Klage hat die Klägerin unter Wiederholung und Ergänzung ihres Vorbringens aus dem Widerspruchsverfahren ihr Begehren weiter verfolgt. Es habe für sie keinen Grund gegeben, nicht rechtzeitig bei der Agentur für Arbeit vorzusprechen, da ihr Vertrag bereits am 31. Oktober 2014 geendet habe. Sie sei der Meinung, dass d...