Rz. 21
Zur Erwerbsfähigkeit als Gegenbegriff zur Erwerbsminderung gehört nicht nur die Befähigung zu arbeiten, sondern auch die Fähigkeit, in Betracht kommende Arbeitsplätze aufzusuchen (BSG, SozR 2200 RVO § 1247 Nr. 53). Es entspricht nämlich den Üblichkeiten des Arbeitsmarktes, dass die Versicherten Beschäftigungen außerhalb ihrer Wohnung ausüben, so dass sie über die notwendige Mobilität verfügen müssen, den Beschäftigungsort zu erreichen. Ist der Versicherte dabei auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen, ist zu prüfen, ob er in der Lage ist, die erforderlichen Fußwege von zu Hause bis zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels sowie vom Verkehrsmittel aus zum Arbeitsplatz und (nach der Arbeit) zurück zu bewältigen. Bei dieser Mobilitätsbeurteilung kommt es nach der Rechtsprechung allerdings nicht auf die konkrete Entfernung zwischen der Wohnung des einzelnen Versicherten und möglichen Haltestellen/Arbeitsstellen an; denn besondere Schwierigkeiten der Wohnsituation gehören nicht zu dem von der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Risiko. Das BSG hat deshalb bei der Bestimmung der erforderlichen Fußwegstrecke, die als Voraussetzung für die Erwerbsfähigkeit viermal täglich (von der Wohnung zur Haltestelle und von der Endhaltestelle zum Arbeitsplatz zuzüglich der Rückwege) zurückzulegen ist, einen generalisierenden Maßstab angesetzt und entsprechend (allgemeiner Erfahrungssätze) gefordert, dass ein Versicherter noch in der Lage sein müsse, Entfernungen von mehr als 500 m in 20 Minuten viermal täglich zurückzulegen. Es sei davon auszugehen, dass derartige Wegstrecken selbst in Ballungsgebieten, auf die die Versicherten zu verweisen sind, üblicherweise bewältigt werden müssen, um Arbeitsstellen oder Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel zu erreichen (BSG, SozR 2200 § 1247 RVO Nr. 56). Demnach liegt volle Erwerbsminderung wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts vor, wenn ein Versicherter nicht mehr in der Lage ist, viermal täglich (knapp) mehr als 500 m in jeweils ca. 20 Minuten zurückzulegen. Volle Erwerbsminderung ist auch gegeben, wenn der Versicherte zwar noch über eine entsprechende Gehfähigkeit verfügt, er jedoch nicht mehr in der Lage ist, öffentliche Verkehrsmittel in der Hauptverkehrszeit zu benutzen (vgl. auch BSG, Urteil v. 19.8.1997, 13 RJ 11/96). Die Befähigung zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel dürfte insbesondere fraglich erscheinen, wenn Versicherte krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage sind, den Einsteigvorgang zu bewältigen, oder wenn sie während der Nutzung des Verkehrsmittels auf einen Sitzplatz angewiesen sind, der ihnen jedenfalls in der Hauptverkehrszeit auch durch einen Mitarbeiter des Verkehrsbetriebes kaum verschafft werden kann.
Rz. 22
Bei der Prüfung der Frage, ob ein Versicherter Arbeitsplätze aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr aufsuchen kann, sind jedoch alle zumutbaren und dem Versicherten verfügbaren Mobilitätshilfen – wie auch ein PKW oder eine Gehhilfe – zu berücksichtigen. Verfügt demnach ein Versicherter über einen PKW und die entsprechende Fahrerlaubnis, so dass er mit diesem Verkehrsmittel in Betracht kommende Arbeitsplätze erreichen kann, ist der Arbeitsmarkt nicht verschlossen. Allerdings muss der Versicherte auch gesundheitlich in der Lage sein, einen PKW zu führen. Ist er z. B. aufgrund von Erkrankungen der Knie- und/oder Hüftgelenke nicht mehr in der Lage, 500 m zu gehen, so liegt es häufig nahe, dass er auch das Kupplungspedal eines PKW jedenfalls nicht mit der im Stadtverkehr oder bei längeren Fahrstrecken erforderlichen Häufigkeit bedienen kann. Der Rentenversicherungsträger ist allerdings berechtigt, dem durch die Gewährung entsprechender Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 16 SGB VI, §§ 33ff. SGB IX) im Wege des Einbaus einer behindertengerechten Bedienung oder – falls der Versicherte nicht über einen PKW verfügt – durch die Bewilligung der notwendigen Kosten zur Anschaffung eines PKWs oder die Übernahme von Taxikosten entgegenzuwirken. Bis zur Zusicherung einer dahingehenden Leistung besteht jedoch Anspruch auf die Gewährung einer vollen Erwerbsminderungsrente auf Zeit (vgl. BSG, Urteil v. 12.9.1991, 5 RJ 34/90; vgl. insbesondere auch Urteile v. 12.12.2011 B 13 R 79/11 R und 21/10 R, NZS 1992 S. 175).