Rz. 2
Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten nach § 56 und die damit einhergehende Versicherungspflicht gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1 setzt die Erziehung eines Kindes in dessen ersten 3 Lebensjahren voraus. Erziehung ist gemäß § 1631 Abs. 1 BGB Inhalt des Personensorgerechts, das insbesondere die Pflicht und das Recht umfasst, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Das Personensorgerecht dient im Wesentlichen dazu, die körperliche, geistige, seelische, sittliche und charakterliche Entwicklung eines Kindes zu beeinflussen (BSG, Urteil v. 28.2.1991, 4 RA 76/90). Eine Bewertung der Erziehungsmaßnahmen nach ihrer Eignung oder ihrem Erfolg findet dabei nicht statt (BSG, Urteil v. 29.3.1978, 5 RJ 4/77). Die Erziehung ist vielmehr Teil der Elternverantwortung, die in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verankert ist und den Eltern grundsätzlich einräumt, ihr Kind nach eigenen Vorstellungen zu erziehen. Dies setzt aber voraus, dass der für die Anerkennung einer Kindererziehungszeit in Betracht kommende Elternteil nicht nur bereit, sondern auch dazu in der Lage ist, das Kind tatsächlich zu erziehen. Er muss sich um das Kind kümmern und einen erzieherischen Einfluss auf das Kind haben (BSG, Urteil v. 18.8.1971, RJ 411/70). Die vorgenannten höchstrichterlichen Urteile zum Anspruch auf große Witwenrente/Witwerrente sind analog auch bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Anerkennung von Kindererziehungszeiten einschlägig, weil sowohl ein Anspruch auf große Witwenrente/Witwerrente gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 243 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. a, Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a als auch die Anwendung von § 56 das Vorliegen eines Erziehungstatbestandes voraussetzen. Vor dem Hintergrund, dass jede länger andauernde Beschäftigung mit einem Kind auch dessen Erziehung zum Gegenstand hat, kann der Erziehungstatbestand bereits als erfüllt angesehen werden, wenn das Kind im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils lebt. Erziehung i. S. v. § 1631 Abs. 1 BGB könnte damit bereits bei bloßer Sicherstellung der Primärbedürfnisse eines Kindes (bei Kleinkindern z. B. Essen, Schlafen und Spielen) durch die Eltern vorliegen (BSG, Urteil v. 25.5.2011, B 12 R 13/09 R). Den Eltern/dem Elternteil muss allerdings kraft Gesetzes oder durch richterlichen Beschluss das Recht übertragen sein, für das Kind zu sorgen. Dabei schließt eine vorübergehende Unterbrechung der häuslichen Gemeinschaft, z. B. durch einen Krankenhausaufenthalt des Kindes oder eines Elternteils während des Erziehungszeitraums, die weitere Annahme des Erziehungstatbestandes grundsätzlich nicht aus. Dies gilt selbst dann, wenn sich ein Kind von seiner Geburt bis zu seinem Todestag ausschließlich im Krankenhaus befunden hat. Voraussetzung für das Vorliegen eines Erziehungstatbestandes ist aber in jedem Fall, dass eine Einflussnahme auf die Erziehung des Kindes durch die Eltern oder ein Elternteil – und sei es auch nur mittelbar – möglich (gewesen) ist (BSG, Urteil v. 29.3.1978, 5 RJ 4/77).
Rz. 3
Die Erziehung eines Kindes ist deshalb zu verneinen, wenn durch die Eltern aus konkreten Gründen (z. B. bei Vollzeitpflege des Kindes i. S. v. § 33 SGB VIII auf Anordnung des Vormundschaftsgerichts gemäß § 1666a BGB) kein erzieherischer Einfluss auf das Kind mehr ausgeübt werden kann. Auch bei Ableistung einer Freiheitsstrafe sowie bei ständigem oder überwiegendem Aufenthalt der Eltern/eines Elternteils im Ausland dürfte i. d. R. faktisch keine Erziehung i. S. der Vorschrift vorliegen. In diesen Fällen bleibt zu prüfen, welche Erziehungsmaßnahmen von dem jeweiligen Elternteil im Sinne eines kontinuierlichen Beitrags zur Entwicklung des Kindes ergriffen werden können/konnten, damit der Erziehungstatbestand (weiterhin) als erfüllt angesehen werden kann (BSG, Urteil v. 21.2.1980, 5 RJ 58/78).
Rz. 4
Die vorübergehende Unterbringung eines Kindes in einem Kinder- oder Säuglingsheim oder dessen Haushaltsaufnahme in den Haushalt der Großeltern stehen der Erziehung des Kindes durch die Eltern nicht entgegen, wenn diese durch regelmäßigen Kontakt zu ihrem Kind weiterhin einen nachvollziehbaren erzieherischen Einfluss auf das Kind ausgeübt haben.