2.1 Grundregel Zugangsfaktor (Abs. 1)
Rz. 15
Der Zugangsfaktor und seine Funktion ist bereits i. d. R. über die Grundsätze in § 63 Abs. 5 niedergelegt; Zweck des Zugangsfaktors ist es danach, Vor- und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor zu vermeiden. § 77 setzt diesen Zweck im Wesentlichen in Abs. 2 Satz 1 durch das Rentenabschlags– und das Rentenzuschlagsprinzip um.
Rz. 16
Maßgebliches Bewertungskriterium für die Bestimmung eines Zu- oder Abschlag ist dabei das Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod; also das Renteneintrittsalter. Ausgehend vom Renteneintrittsalter ist zu bestimmen, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Ob ein Zu- oder ein Abschlag bei den persönlichen Entgeltpunkten vorzunehmen ist, richtet sich dabei nach der jeweiligen Altersgrenze der in Anspruch genommenen Rentenart.
Rz. 17
Bei den unterschiedlichen Altersrenten regelt das Gesetz auch unterschiedliche Altersgrenzen, ab denen Rente abschlagsfrei gezahlt wird. Diese Altersgrenze wird i. d. R. als Referenzalter bezeichnet.
2.2 Grundsätze zur Ermittlung des Zugangsfaktors (Abs. 2)
2.2.1 Entgeltpunkte waren noch nicht Gegenstand einer Rente (Satz 1)
Rz. 18
Der Zugangsfaktor ist nach Abs. 2 Satz 1 nach den dort vorgegebenen Berechnungsmodalitäten mit Zu- oder Abschlägen zu ermitteln. Einzige Voraussetzung ist insoweit, dass die Entgeltpunkte noch nicht Gegenstand einer Rente waren. Abs. 2 Satz 1 steht damit im Ausschlussverhältnis zu Abs. 3 Satz 1.
Rz. 19
Entgeltpunkte waren dann noch nicht Gegenstand einer Rente, wenn sie in der Summe der Entgeltpunkte i. S. d. § 66 Abs. 1 bisher noch keine Berücksichtigung gefunden haben. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn es sich um eine erstmalige Rentenbewilligung handelt. Ob Entgeltpunkte erstmalig zu berücksichtigen sind, ist gesondert für jede Entgeltpunktart zu prüfen (Entgeltpunkte West/Ost – allgemeine und knappschaftliche Rentenversicherung; GRA der DRV zu § 77 SGB VI, Stand: 6.12.2022, Anm. 2). Für nach Beginn der Rente neu erzielte Entgeltpunkte bzw. Zuschläge für Entgeltpunkte nach § 76a und § 76d ist daher ebenfalls nach Abs. 2 der Zugangsfaktor zu ermitteln.
2.2.2 Verfassungs- und europarechtliche Aspekte des Rentenabschlagsprinzips im Überblick
Rz. 20
Die Vorschriften über die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente – hier wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (§ 237 Abs. 3 i. V. m. § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a) – sind mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfG, Beschluss v. 11.11.2008, 1 BvL 3/05, 1 BvL 4/05, 1 BvL 5/05, 1 BvL 6/05, 1 BvL 7/05; BVerfG, Beschluss v. 11.1.2011, 1 BvR 3588/08; BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 5.2.2009, 1 BvR 1631/04, und BSG, Urteil v. 25.2.2004, B 5 RJ 44/02 R, Rz. 14 ff.; BSG, Urteil v. 5.8.2004, B 13 RJ 40/03 R, Rz. 28 ff.; BSG, Urteil v. 6.5.2010, B 13 R 18/09 R, Rz. 19 ff.).
Rz. 21
Die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ist mit dem Grundgesetz vereinbar, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt (BVerfG, Beschluss v. 11.1.2011, 1 BvR 3588/08; BSG, Urteil v. 14.8.2008, B 5 R 32/07 R).
Rz. 22
Soweit die Absenkung des Zugangsfaktors für Hinterbliebenenrenten gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4a in Rentenanwartschaften eingreift, ist dieser Eingriff gerechtfertigt (BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 7.2.2011, 1 BvR 642/09). Die Einführung eines abgesenkten Zugangsfaktors bei Hinterbliebenenrenten ist nicht verfassungswidrig (BSG, Urteil v. 14.8.2008, B 5 R 98/07 R).
Rz. 23
Die Regelungen des § 77 Abs. 2 sind auch im Hinblick auf die versicherungsmathematischen Abschläge (Erniedrigung des Zugangsfaktors) nicht verfassungswidrig und verstoßen nicht gegen Art. 14 GG und Art. 3 GG (BSG, Beschluss v. 12.1.2017, B 5 R 326/16 B).
Rz. 24
§ 77 verstößt auch nicht gegen das europäische Koordinierungsrecht der EGV 883/2004 oder gegen Art. 14 MRK (BSG, Beschluss v. 19.10.2017, B 13 R 140/14 B; mit Anm. von Perniß, NZS 2018, 34).
Rz. 24a
Sind die Voraussetzungen nur unter Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Zeiten nach EU-Recht oder ausländischer Zeiten nach einem Sozialversicherungsabkommen erfüllt oder ist auch eine anteilige Leistung nach Art. 52 Abs. 1 Buchst. b VO (EG) Nr. 883/2004 zu berücksichtigen, sind bei der Bestimmung des Beginnzeitpunkts für die Nichtinanspruchnahme die Regelungen zur Mindestversicherungszeit des Art. 57 VO (EG) Nr. 883/2004 oder vergleichbare Regelungen nach einem Sozialversicherungsabkommen zu beachten (GRA der DRV zu § 77 SGB VI, Stand: 6.12.2022, Anm. 2.3).
2.2.3 Neue Entgeltpunkte aufgrund gesetzlicher Anordnung des § 77
Rz. 25
§ 77 sieht in bestimmten Fallkonstellationen vor, dass Entgeltpunkte als neu gelten. Es ist die Fiktion des § 77 Abs. 3 Satz 2 (vgl. Komm. hierzu) zu beachten, der bei einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung anordnet, dass die Hälfte der Entgeltpunkte stets als "neue" Entgeltpunkte anzusehen ist. Als neue Entgeltpunkte sind auch solche anzusehen, die Gegenstand einer Rente waren, die vor Vollendung des 62. Lebensjahres wieder entfallen ist und sich nicht nahtlos eine neue Rente anschließt (§ 77 Abs. 2 Satz 3). Bei der weggefallenen Rente kann es sich nur um ei...