Rz. 9
Die Folgen des Unterlassens einer nach der Vorschrift erforderlichen Anzeige sind unterschiedlich: Wie § 201 ist auch § 202 nicht bußgeldbewehrt (vgl. § 209), es können für den Arzt allerdings standesrechtliche und gegebenenfalls zivilrechtliche Konsequenzen (Schadenersatz) eintreten.
Die Folgen können indes für den Versicherten oder seine Rechtsnachfolger ganz erheblich sein, wie der dem Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen v. 3.12.2008 zugrunde liegende Sachverhalt zeigt (L 17 U 46/08; Revision anhängig unter dem Az. B 2 U 3/09 R): Der Verdacht auf eine Asbesterkrankung (Berufskrankheit nach Nr. 4105 der Anlage zur BKV) wurde unrechtmäßig zu Lebzeiten des Versicherten nicht gemeldet, obwohl die Voraussetzung für die Anerkennung und Entschädigung nach einer MdE von 100 % vorlagen. Da zu Lebzeiten des Versicherten kein Verwaltungsverfahren anhängig gemacht worden war, welches Voraussetzungen für eine Rechtsnachfolge nach § 59 SGB I gewesen wäre, musste die Berufsgenossenschaft die Verletztenrente bis zum Tod des Versicherten nicht an die Rechtsnachfolgerin (hier: Tochter) des Versicherten auszahlen.
Das BSG hat zwar entschieden, dass ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch des Sonderrechtsnachfolgers gegeben sein kann, wenn ein Arzt bei begründetem Verdacht einer Berufskrankheit nicht unverzüglich die Berufskrankheitsanzeige erstattet hat und deshalb nicht bereits zu Lebzeiten des Versicherten ein Verwaltungsverfahren bei der Berufsgenossenschaft anhängig geworden ist (Urteil v. 8.10.1998, B 8 KN 1/97 U R). Ein Herstellungsanspruch besteht aber nur dann, wenn sich die Beklagte (oder die Beigeladene) ein eventuelles Fehlverhalten Dritter zurechnen lassen müsste; dies sei grundsätzlich bei Ärzten zu bejahen, welche Bedienstete von Körperschaften des öffentlichen Rechts (insbesondere: von anderen Sozialleistungsträgern) seien.
Rz. 10
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat sich indes veranlasst gesehen (a. a. O.), dies weitergehend dahingehend einzuschränken, dass eine besondere Funktionseinheit zwischen unterlassendem Arzt und der Berufsgenossenschaft oder eine gesteigerte Beratungspflicht des Arztes gegenüber dem Versicherten bestehe. Das bloße Unterlassen eines vom Versicherten ausgewählten Arztes, der von dem Leistungsträger organisatorisch unabhängig sei, soll hierfür nicht ausreichen. Die vom 8. Senat des BSG (a. a. O.) angenommene "Indienstnahme" aller Ärzte aufgrund ihrer über § 202 erfolgten Einbeziehung in das Verwaltungsverfahren gehe zu weit. Ausgehend von den allgemeinen Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei dies zu verneinen, wenn zu dem unterlassenden Arzt – wie im Regelfall – keine enge Betreuungs- und Beratungsbeziehung des Versicherten bestehe. Außerdem stehe der Regelungszweck des § 59 SGB I der Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs entgegen, da sein Zweck gerade der Ausschluss von Ansprüchen sei, zu denen noch kein Verwaltungsverfahren anhängig gemacht worden sei.
Rz. 11
Demgegenüber hat das Sächsische LSG entschieden, dass ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auch ohne diese besonderen Voraussetzungen gegeben sein kann, wenn ein Arzt einen begründeten Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit nicht unverzüglich anzeigt und dadurch ein Verwaltungsverfahren erst nach dem Tod des Versicherten eingeleitet wird (Urteil v. 26.4.2007, L 2 U 114/05): Ein Herstellungsanspruch bestehe auch dann, wenn sich die Beklagte ein Fehlverhalten Dritter zurechnen lassen müsse, wobei "Dritte" in diesem Sinne auch die den Versicherten behandelnden Ärzte seien; als Fehlverhalten gelte dabei auch, dass eine Anzeige der Berufskrankheit nicht mehr zu Lebzeiten des Versicherten bei der Beklagten eingegangen sei (mit Hinweis auf BSG, a. a. O.).
Rz. 12
Die Entscheidung des Sächsischen LSG erscheint gegenüber der Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vorzugswürdig. Da anderweitige Sanktionsmöglichkeiten fehlen (Ordnungswidrigkeit) oder nur unsicher durchzusetzen sind (Schadenersatz), aber ein Tätigwerden der Ärzte für die Berufsgenossenschaften erfolgt (BSG, a. a. O.), sollte ein Unterlassen den Berufsgenossenschaften zugerechnet werden können. Gerade der vom LSG Nordrhein-Westfalen entschiedene Sachverhalt belegt die Unwägbarkeiten, von denen eine Zurechenbarkeit des Unterlassens bei einer Einzelfallprüfung führen kann, denn dort war man sich ärztlicherseits über die erforderliche Meldung im Klaren und wusste nur zunächst nicht, welche Berufsgenossenschaft zuständig war. Außerdem erscheint es fragwürdig, weil schwer zu ermitteln und ebenfalls mit Zufälligkeiten behaftet, in jedem Einzelfall das Näheverhältnis des unterlassenden Arztes zum Versicherungsträger bzw. das konkrete Beratungs- und Betreuungsverhältnis zu dem Versicherten zu untersuchen. Im Rahmen einer einheitlichen Lösung, die nicht zu Lasten der Versicherten oder der Rechtssicherheit führt, wäre insoweit eine Klarstellung des Gesetzgebers zu befürworten.