Rz. 65
Die in Abs. 1 Satz 2 genannten Grundvoraussetzungen für die Aufnahme in die Berufskrankheitenliste müssen auch für die Anerkennung nach Abs. 2 erfüllt sein. Daher sind die unter Rz. 45 bis 54 erläuterten Voraussetzungen an dieser Stelle zu prüfen: Der Versicherte muss einer besonderen Personengruppe angehört haben, die besonderen Einwirkungen, d. h., Einwirkungen mit einem erheblich höheren Einwirkungsgrad ausgesetzt war als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (vgl. Rz. 45 bis 47). Diese Einwirkungen müssen generell geeignet sein, eine Erkrankung bei Angehörigen der Gruppe auszulösen (Rz. 53 f.). Anders als bei der Prüfung der Voraussetzungen nach Abs. 1 ist also im Einzelfall die Zugehörigkeit des Versicherten zu der besonderen Personengruppe zu prüfen und festzustellen. Dazu ist jedoch ebenso wie im Falle des Abs. 1 zu prüfen, ob der Versicherte vergleichbaren Expositionen und ähnlichen betrieblichen Verhältnissen ausgesetzt war.
Rz. 66
Verschiedentlich diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Problematik der "Ein-Mann-Gruppe". Kommt eine Anerkennung nach Abs. 2 in Betracht, wenn nur ein einziger Versicherter der besonderen schädigenden Einwirkung ausgesetzt war? Kann in einem solchen – sicherlich seltenen – Fall von einer berufsgruppenspezifischen erhöhten Gefährdung gesprochen werden? Dem Wortlaut des Abs. 2 nach ist das zu verneinen. Das BSG (Urteil v. 29.10.1981, 8/8a RU 82/80) hat gleichwohl die Voraussetzung bejaht. Danach ist der Begriff der Personengruppe ausdehnend dahingehend auszulegen und auf eine einzelne Person anzuwenden, wenn aufgrund besonderer Arbeitsvorgänge oder sonstiger besonderer Umstände zwar nur eine Person den besonderen schädigenden Einwirkungen ausgesetzt war, theoretisch aber auch andere Personen in denkbar gleicher Lage hätten betroffen sein können.
Rz. 66a
Die Einwirkung mit einem erheblich höheren Einwirkungsgrad müssen abstrakt-generell nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft Ursache einer Erkrankung der geltend gemachten Art sein (generelle Geeignetheit). Die generelle Geeignetheit i. S. d. generellen Ursachenzusammenhangs zwischen den Einwirkungen und der Krankheit beurteilt sich nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft. Die Feststellung unterscheidet sich aufgrund der hierfür maßgeblichen Abstraktheit von der Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität beim einzelnen Arbeitsunfall oder der Listen-BK im Einzelfall. Dennoch gilt auch insofern die Theorie der wesentlichen Bedingung (BSG, Urteil v. 22.6.2023, B 2 U 11/20 R). Erkenntnisse zur generellen Geeignetheit liegen i. d. R. vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Diese Erkenntnisse werden aufgrund der regelmäßig multifaktoriellen Ursache von Krankheiten oftmals erst durch statistisch-epidemiologische Studien zu erlangen sein. Gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft für die rechtliche Anerkennung einer Wie-BK erfordern danach nicht stets eine Absicherung durch die Feststellung einer erhöhten Prävalenz (Krankheitshäufung). Die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse können sich auch aus den international anerkannten Diagnosewerken der ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) oder aus den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) ergeben (BSG, a. a. O., zur Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung - PTBS als Wie-Berufskrankheit bei einem Rettungssanitäter).