OFD Frankfurt, Verfügung v. 15.11.2016, S 2470 A - 02 - St 223
Bezug: BFH-Urteil vom 4.2.2016, III R 17/13
Mit Urteil vom 4.2.2016, III R 17/13 hat der BFH entschieden, dass eine im EU-Ausland lebende geschiedene Ehefrau, in deren Haushalt die gemeinsamen Kinder leben, einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld hat, Art. 60 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 987/2009 sowie Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 64 Abs. 2 Satz 1 EStG.
1. Verfahrensgang
Das FG Düsseldorf hat mit Urteil vom 13.3.2013, 15 K 4316/12 entschieden, dass die Familienkasse dem in Deutschland lebenden und unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Vater Kindergeld zu gewähren habe, da ihm ein Kindergeldanspruch nach deutschem Recht zustehe: er habe seinen Wohnsitz in Deutschland und sein Kind lebe in einem Land der Europäischen Union. Die Zugehörigkeit des Kindes zum Haushalt der Mutter (geschiedene Ehefrau) stehe dem nicht entgegen. Zudem sei die Vorschrift des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht einschlägig, weil die Kindsmutter in ihrer Person nicht die Anspruchsvoraussetzungen nach §§ 62 ff. EStG erfülle. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (VO) Nr. 987/2009 führe zu keiner anderen Beurteilung, da mit dieser Vorschrift keine Rechte Dritter begründet werden, durch die Rechte des Klägers (Vater) geschmälert oder ausgeschlossen würden.
Die Familienkasse legte hiergegen Revision ein. Mit Beschluss vom 8.5.2014, III R 17/13 setzte der zuständige Senat des BFH das Revisionsverfahren aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Rechtsfragen zur Anwendung der Art. 60 Abs. 1 Satz 2+3 der VO Nr. 987/2009 und Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 vor.
Der EuGH hat diese Vorlagefragen mit Urteil vom 22.10.2015, C-378/14 beantwortet.
Der BFH wies daraufhin unter Berücksichtigung der Beantwortung des EuGH mit Urteil vom 4.2.2016, III R 17/13 die Klage des Vaters ab. Das FG Düsseldorf habe zu Unrecht entschieden, dass der Kindergeldanspruch dem Vater zustehe. Vielmehr habe die im EU-Ausland lebende Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.
2. Voraussetzungen
Der in Deutschland lebende Elternteil A hat grundsätzlich Anspruch auf Kindergeld nach den Vorschriften des EStG (§§ 62 ff. EStG).
Art. 60 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 und Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 sind anzuwenden
- Grenzüberschreitender Sachverhalt mit Unionsbezug
- Persönlicher Anwendungsbereich nach Art. 2 der VO Nr. 883/2004 durch deutsche Staatsbürgerschaft des einen Elternteils
- Sachlicher Anwendungsbereich durch Kindergeld, das eine Familienleistung im Sinne des Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 darstellt
- Deutsche Zuständigkeit für die Erbringung von Familienleistungen, Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und e der VO Nr. 883/2004
- Familienangehörige im Sinne des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004 (z.B. Eltern und Kinder).
3. Rechtsfolgen
Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 fingiert unter Anwendung der Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, dass die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten – insbesondere, was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt – unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen.
Die Vorschrift unterstellt also dem im EU-Ausland lebenden (geschiedenen) Elternteil B, dass dieser zusammen mit seinem Kind in einem eigenen Haushalt in Deutschland lebt und somit auch nach den §§ 62 ff. EStG kindergeldberechtigt ist. Hieraus ergeben sich konkurrierende Kindergeldansprüche, die durch § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG geregelt werden. Nach dieser Vorschrift ist derjenige Elternteil vorrangig kindergeldberechtigt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat – hier der im EU-Ausland lebende Elternteil B. Die Anspruchsberechtigung gilt solange die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach in der Person des im Inland lebenden Elternteils A erfüllt sind, vgl. BFH-Urteil vom 4.2.2016, III R 17/13, Rz. 21.
Dem Elternteil A steht trotz Kindergeldberechtigung des Elternteils B gem. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG ein Freibetrag für das sächliche Existenzminimum des Kindes sowie ein Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf zu, da das Kind nach § 32 EStG zu berücksichtigen ist. Ihm steht zudem der doppelte Freibetrag zu, da Elternteil B nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist, § 32 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 EStG. Dieser Anrechnung steht der vorrangige Kindergeldanspruch des Elternteils B nicht entgegen, vgl. BFH-Urteil vom 13.7.2016, XI R 33/12, Rz. 30.
Das Fehlen eines im EU-Ausland gestellten Antrags auf Familienleistungen führt nicht dazu, dass die Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 entfällt. Auch geht der Kindergeldanspruch des im Ausland lebenden Elternteils bei fehlender Antragstellung im Ausland nicht auf denjenigen im Inland über, der im Inland das Kindergeld beantragt.
Beispiel:
Die geschiedene Ehefrau (Polin) lebt mit dem gemeinsamen Kind in Polen. Das Ki...