Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinreichende Erfolgsaussicht des Klagebegehrens für Gewährung von Prozeßkostenhilfe ausreichend. Besonderer Kündigungsschutz für Wahlbewerber nach § 103 Abs. 1 BetrVG ab Aufstellung des Wahlvorschlags. Eingang des Wahlvorschlags bei Wahlvorstand für besonderen Kündigungsschutz des Wahlbewerbers nicht erforderlich. Besonderer Kündigungsschutz des Wahlbewerbers auch nach späterer Rücknahme von Unterschriften
Leitsatz (amtlich)
1. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern nur zugänglich machen. Dem genügt das Gesetz, indem § 114 ZPO die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vorsieht, wenn nur hinreichende Erfolgsaussicht besteht, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss (vgl. BVerfG 24. Juli 2002 - 2 BvR 2256/99, zu B I 1 der Gründe).
2. Der besondere Kündigungsschutz für Wahlbewerber nach § 103 Abs. 1 BetrVG beginnt mit dem Zeitpunkt der Aufstellung des Wahlvorschlags und besteht bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses. Aufgestellt ist der Wahlvorschlag, wenn er die erforderliche Zahl an Stützunterschriften nach § 14 Abs. 4 BetrVG aufweist. Für den Beginn des Kündigungsschutzes ist es nicht erforderlich, dass der Wahlvorschlag auch bereits beim Wahlvorstand eingereicht ist; es muss jedoch ein Wahlvorstand bestellt sein (vgl. BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10, Rn. 14; 5. Dezember 1980 - 7 AZR 781/78, zu Nr. 2 der Gründe)
3. Ebenfalls keine Voraussetzung ist, dass der Wahlvorstand das Wahlausschreiben erstellt hat oder die Frist für die Einreichung von Wahlvorschlägen begonnen hat. Ausreichend ist die Einleitung des Wahlverfahrens, das mit der Bestellung des Wahlvorstands beginnt (vgl. BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10, Rn. 14; 19. April 2012 - 2 AZR 299/11, Rn. 12).
4. Ist ein Wahlvorschlag erstellt und sogar beim Wahlvorstand eingereicht, beeinträchtigt auch die spätere Rücknahme von Unterschriften deren Wirksamkeit gem. § 8 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 WO nicht (vgl. BAG 5. Dezember 1980 - 7 AZR 781/78, zu 2 der Gründe). Der Schutzzweck des § 103 BetrVG und der des § 15 Abs. 3 KSchG gebiete es, dem Wahlbewerber im Fall des § 8 Abs. 1 Nr. 3 WahlO den einmal erworbenen (zeitlich befristeten) besonderen Kündigungsschutz zu belassen.
Normenkette
BGB §§ 623, 626; KSchG § 15; BetrVG § 103; WahlO § 8; ArbGG § 11a Abs. 1; BGB § 134
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 02.12.2021; Aktenzeichen 63 Ca 10823/21) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 2. Dezember 2021 - 63 Ca 10823/21 - abgeändert und dem Antragsteller Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug ohne Raten mit Wirkung vom 29. Oktober 2021 bewilligt und Rechtsanwalt B. beigeordnet.
Gründe
I.
Die Parteien haben im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die Verpflichtung der Verfügungsbeklagten zur Beschäftigung des Beschwerdeführers nach außerordentlicher Kündigung gestritten.
Der Beschwerdeführer war bei der Verfügungsbeklagten und deren Rechtsvorgängerin als sogenannter "Rider" tätig. Die Verfügungsbeklagte beschäftigt in Berlin mehr als 2.000 Personen, überwiegend Fahrradkuriere (sog. Rider), die sie für die von ihr angebotenen kurzfristigen Lieferungen von Waren des Supermarktsortiments einsetzt.
Im Betrieb der Verfügungsbeklagten ist im vierten Quartal 2921 erstmals eine Betriebsratswahl durchgeführt worden. Dazu fand am 3. Juni 2021 eine Betriebsversammlung statt, in der ein Wahlvorstand gewählt wurde, bestehend aus neun Wahlvorstandsmitgliedern und neun Ersatzmitgliedern, darunter Frau H., die zur Vorsitzenden bestellt wurde.
Am 1. Oktober 2021 beteiligte sich der Beschwerdeführer an einer Protestaktion vor dem "Warehouse Bergmannkiez". Belegschaftsmitglieder stellten ua. ihre Fahrräder "auf den Kopf". Der Beschwerdeführer arbeitete danach nicht mehr, so auch am 4. Oktober 2021.
Der Wahlvorstand hängte am 4. Oktober 2021 in verschiedenen "Warehouses" der Verfügungsbeklagten gegen 17:00 Uhr ein "Wahlausschreiben für die Wahl eines Betriebsrats" aus. Danach ist bei dem Wahlvorstand ein Wahlvorschlag mit dem Kennwort "Banna Dreams" eingereicht worden, auf dem der Beschwerdeführer als Wahlbewerber aufgeführt war. Das Schreiben war mit über 50 Stützunterschriften versehen. Unter den Parteien ist streitig, ob der Wahlvorschlag noch am 4. Oktober 2021 bei dem Wahlvorstand eingegangen ist.
Die Verfügungsbeklagte beschäftigte den Beschwerdeführer dann nicht mehr, strich die ihm bereits zugeteilten Dienste aus dem Dienstplan und entzog ihm seine Zugangsberechtigung für die App, mit der sie ihren Arbeitnehmern Dienstzeiten und Aufträge mitteilt. Die Verfügungsbeklagte ermöglichte es dem Verfügungskläger aber, zum Zwecke der Wahlwerbung die Betriebsräume zu betreten.
Am 6. Oktober 2021 kündigte die Verfügungsbeklagte dem Beschwerdeführer im Rahmen eines Telefonats mündlich. Sie versuchte am 7. Oktober 2021 erfolglos, dem Beschwerdeführer unter seiner ihr mitgeteilten Anschrift ein Kündigu...