Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit von Video- und Telefonkonferenzen im Betriebsrat. Behinderung der Betriebsratsarbeit durch unzulässige Untersagung der Durchführung von Sitzungen durch Arbeitgeber
Leitsatz (amtlich)
1. § 129 Abs. 1 BetrVG ermöglicht es dem Betriebsrat und den übrigen dort genannten Arbeitnehmervertretungen für die Durchführung von Sitzungen auf Video- und Telefonkonferenzen zurückzugreifen. Die Nutzung solcher Teilnahmemöglichkeiten tritt als zusätzliche Option neben die hergebrachte Durchführung von Sitzungen unter physischer Anwesenheit der Teilnehmer vor Ort. Ein grundsätzlicher Vorrang der Durchführung als Telefon- oder Videokonferenz kann aus der Vorschrift nicht hergeleitet werden.
2. Offen bleibt, ob im Einzelfall und unter außergewöhnlichen Umständen der Betriebsrat oder eine der übrigen im § 129 Abs. 1 BetrVG genannten Arbeitnehmervertretungen zu einer Sitzungsdurchführung unter Nutzung von Teilnahmemöglichkeiten mittels Telefon- oder Videokonferenz angehalten sein kann.
Normenkette
BetrVG §§ 129, 78 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 07.08.2020; Aktenzeichen 54 BVGa 9762/20) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 07. August 2020 - 54 BVGa 9762/20 - abgeändert:
1. Der Beteiligten zu 2 wird es bei Meidung eines Ordnungsgeldes bis 10.000 Euro aufgegeben, es zu unterlassen, die Durchführung der Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses am 21. September 2020 und des Gesamtbetriebsrates vom 22. bis 24. September 2020 im Intercity Hotel in Darmstadt zu untersagen.
2. Der Beteiligten zu 2 wird aufgegeben, vorläufig die Tagungs- und Übernachtungskosten für die Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses am 21. September 2020 und des Gesamtbetriebsrates vom 22. bis 24. September 2020 zu tragen.
3. Der Beteiligten zu 2 wird es bei Meidung eines Ordnungsgeldes bis 10.000 Euro aufgegeben, es zu unterlassen, das von ihr bestätigte Tagungsangebot gemäß Anlage BF4 für die Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses am 21. September 2020 und des Gesamtbetriebsrates vom 22. bis 24. September 2020 zu stornieren oder auf andere Weise zu widerrufen.
4. Es wird festgestellt, dass das Verfahren wegen der ursprünglich zu 1b sowie 2 bis 4 gestellten Anträge erledigt ist.
5. Im Übrigen werden die Anträge zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzes darüber, ob die Arbeitgeberin die Durchführung von Sitzungen des Gesamtbetriebsrats und des Gesamtbetriebsausschusses als Präsenzsitzung untersagen darf.
Die Beteiligte zu 2, Antrags- und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Arbeitgeberin) ist ein Unternehmen mit etwa 1.800 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, das überregional insbesondere Rehabilitationskliniken betreibt. Der Beteiligte zu 1, Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Gesamtbetriebsrat) ist der dort auf Grundlage des "Tarifvertrags über die Form der konzernweiten Arbeitnehmervertretungsstruktur in der ... AG" vom 31. Januar 2008 gebildete Gesamtbetriebsrat mit 35 Mitgliedern. Er hat einen Gesamtbetriebsausschuss gebildet.
Seit Ende März 2020 führten der Gesamtbetriebsrat und seine Ausschüsse Sitzungen als Telefonkonferenzen durch. Die für Mitte August 2020 vorgesehene mehrtägige Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses beschlossen Vorsitzender und Stellvertreter des Gesamtbetriebsrats als Präsenzsitzung in Koblenz durchzuführen.
Am 18. / 19. Juli 2020 kam es bei der Arbeitgeberin zu einer Infektion mit dem neuen Coronavirus bei Ärzten, die sich privat getroffen hatten. In der Folge mussten insgesamt 130 Patienten unter Quarantäne gestellt werden.
Am 22. Juli 2020 beschloss die Arbeitgeberin, allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Teilnahme an klinikübergreifenden Präsenzveranstaltungen zu untersagen.
Mit E-Mail vom 23. Juli 2020 teilte die Arbeitgeberin dem Gesamtbetriebsrat und weiteren Arbeitnehmervertretungen mit, die Geschäftsleitung habe beschlossen, jegliche klinikübergreifenden Treffen weiterhin nicht zu gestatten. Dies umfasse Betriebsrats- und Ausschusssitzungen, die über die Zusammenkunft von Mitarbeitern von mehr als einer Klinik hinausgingen. Mit E-Mail vom 24. Juli 2020 verteidigte die Arbeitgeberin die Untersagung und widerrief eine zuvor für die Sitzung erteilte Kostenzusage.
Mit Antrag an das Arbeitsgericht vom 7. August 2020 hat der Gesamtbetriebsrat ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eingeleitet und insbesondere einen Unterlassungsanspruch geltend gemacht, wonach es die Arbeitgeberin unterlassen soll, Präsenzsitzungen insbesondere die für Mitte August beschlossene Sitzung mit dem Tagungsort in Koblenz zu untersagen. Den Verfügungsanspruch leitet der Gesamtbetriebsrat aus dem Verbot der Behinderung der Arbeit der Mitglieder des Gesamtbetriebsrates her. Der Gesamtbetriebsrat hat vor dem Arbeitsgericht geltend gemacht, er selbst bzw. sein Vorsitzender legten eigenständig fest, wann und in welcher Form Sitzungen durchgeführt würden. Rechtsvorschriften zur Eindämmung der Pan...