Entscheidungsstichwort (Thema)

Benachteiligende Formulierung als "Indiztatsache" nach § 22 AGG. Darlegungs- und Beweislast zur Entkräftung einer "Indiztatsache" nach § 22 AGG. Rechtsmissbräuchliches Entschädigungsverlangen. Doppelfunktion der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Angemessene Entschädigung i.S.d. § 15 Abs. 2 AGG

 

Leitsatz (amtlich)

Eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechtes liegt vor, wenn einem männlichen Bewerber um eine Stelle abgesagt wird mit der Begründung, "unsere sehr kleinen, filigranen Teile sind eher etwas für flinke Frauenhände".

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Lehnt der Arbeitgeber einen Bewerber mit der Begründung ab, die Tätigkeit sei wegen der "kleinen, filigranen Teile eher etwas für flinke Frauenhände", liegt eine Indiztatsache nach § 22 AGG für eine geschlechtsspezifische Benachteiligung des männlichen Bewerbers vor.

2. Bei einer Indiztatsache nach § 22 AGG liegt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass keine Benachteiligung wegen des Geschlechts stattgefunden hat, beim Arbeitgeber. Er muss den vollen Gegenbeweis führen, dass nicht gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen wurde.

3. Rechtsmissbrauch nach § 242 BGB ist anzunehmen, sofern der Bewerber sich nicht beworben hat, um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten, sondern es ihm darum ging, nur den formalen Status als Bewerber i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG zu erlangen mit dem ausschließlichen Ziel, Ansprüche auf Entschädigung und/oder Schadensersatz geltend zu machen.

4. Der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG kommt eine Doppelfunktion zu. Sie dient einerseits der vollen Schadenskompensation und andererseits der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist.

5. Bei der Festsetzung der angemessenen Entschädigung durch das Tatsachengericht sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Zu diesen zählen etwa die Art und Schwere der Benachteiligung, ihre Dauer und Folgen, der Anlass und der Beweggrund des Handelns, der Grad der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers, etwa geleistete Wiedergutmachung oder erhaltene Genugtuung und das Vorliegen eines Wiederholungsfalls. Ferner ist der Sanktionszweck der Norm zu berücksichtigen.

 

Normenkette

AGG § 3 Abs. 1, § 6 Abs. 1, §§ 7, 15 Abs. 2, §§ 1, 22; BGB § 242

 

Verfahrensgang

ArbG Nürnberg (Entscheidung vom 10.01.2022; Aktenzeichen 3 Ca 2832/21)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichtes Nürnberg vom 10.01.2022 - 3 Ca 2832/21 - abgeändert.

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 22.06.2021 zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Rechtsstreites tragen die Beklagte zu 7/10 und der Kläger zu 3/10.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um Entschädigungsansprüche nach dem AGG nach einer erfolglosen Bewerbung des Klägers.

Der am 05.10.1980 geborene Kläger ist gelernter Einzelhandelskaufmann. Er arbeitete von 2000 bis 2008 nach seinem Lebenslauf (Bl. 38 f der Akte) als kaufmännischer Angestellter im Bereich Telekommunikation, danach als Call Center Agent bis 2011. Anschließend war er Vermögensverwalter von Grundstücken und Immobilen der eigenen Familie. Von 2014 bis 2017 pendelte er zwischen einer Beschäftigung im Wahlkreisbüro eines Mitgliedes des deutschen Bundetages und Arbeitslosigkeit. Ab 2017 war er bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen beschäftigt und arbeitete als Produktionshelfer in einem Unternehmen der technischen Keramik. Seit Januar 2021 war er wieder arbeitssuchend.

Die Beklagte produziert und vertreibt Modelle von PKW, LKW und öffentlichen Verkehrsmitteln im Maßstab 1:87 mit 100 bis 150 Einzelteilen. Die Beklagte schrieb mit undatierter Stellenausschreibung (Bl. 31 der Akte) bei der Bundesagentur für Arbeit die Stelle eines Bestückers für Digitaldruckmaschinen aus:

"Für unsere filigranen Automodelle im Maßstab 1/87 H0 suchen wir Mitarbeiter (m/w/d) für unsere Digitaldruckmaschine.

Die Teile müssen in die Maschine eingelegt und entnommen werden.

Anforderungen:

- Fingerfertigkeit/Geschick

- Deutschkenntnisse in Wort und Schrift

- Zuverlässiges, sorgfältiges und konzentriertes Arbeiten

- Teamorientierung, Belastbarkeit und ausgeprägte Motivation

- Fachkenntnisse sind nicht zwingend notwendig

Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!"

Die in der Ausschreibung genannten Teile sind sehr klein und müssen teilweise bei der Montage der Modelle mit Hilfe von Pinzetten positioniert werden. Die Stelle war für eine Vollzeitbeschäftigung vorgesehen und sollte mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden.

Der Kläger bewarb sich mit Schreiben vom 19.04.2021 (Bl. 8 der Akte). Mit E-Mail vom selben Tag sagte die Gesellschafterin und Prokuristin der Beklagten dem Kläger die Stelle ab:

"Sehr geehrter Herr D...,

vielen Dank für Ihre Bewerbungsunterlagen.

Unsere sehr kleinen, filigranen Teile sind eher etwas für flinke Frau...

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