Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Teilaufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II. Entbehrlichkeit der Anhörung. Anforderung an die Anhörung zum Erstattungsbescheid. Bestimmtheit und Begründung des Verwaltungsaktes. Folge von Verfahrensfehlern. Heilung eines Anhörungsmangels durch Nachholung. Voraussetzung des förmlichen Verwaltungsverfahrens
Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 24 Abs 2 Nr 5 SGB 10 ist die Anhörung vor Aufhebungs- oder Änderungsbescheiden entbehrlich, mit denen Arbeitslosengeld II an geändertes Einkommen angepasst wird; dies gilt auch für eine rückwirkende Anpassung.
2. Die Anhörungspflicht vor Erlass von Erstattungsbescheiden nach § 50 Abs 1 SGB 10 umfasst lediglich die Tatsache und den Umfang der Aufhebung der Leistungsbewilligung, nicht aber die Aufhebungsvoraussetzungen.
Orientierungssatz
1. Ein Aufhebungsbescheid ist auch dann hinreichend bestimmt iS des § 33 Abs 1 SGB 10, wenn er zwar nicht das Datum des aufgehobenen Bewilligungsbescheides nennt, aber dem Verfügungssatz ohne weiteres zu entnehmen ist, dass und in welcher Höhe die Bewilligung von Arbeitslosengeld II aufgehoben wird, und für den fraglichen Zeitraum lediglich eine Bewilligungsentscheidung vorlag.
2. Die Aufhebung angefochtener Verwaltungsakte scheidet gem § 42 S 1 SGB 10 selbst bei Annahme eines Begründungsmangels aus, wenn die Verletzung des § 35 Abs 1 S 1 SGB 10 bei einer gebundenen Entscheidung - wie hier gem § 40 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB 2 iVm § 330 Abs 3 S 1 SGB 3 - die Entscheidung in der Sache nicht beeinflussen konnte.
3. Zur Voraussetzung eines "mehr oder minder" förmlichen Verwaltungsverfahrens, wenn eine fehlende Anhörung durch Nachholung bis zur letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens geheilt werden soll.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. August 2011 abgeändert und der Bescheid des Beklagten vom 7. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2009 aufgehoben, soweit darin die Leistungsbewilligung ab dem 1. November 2007 aufgehoben und eine Erstattung von mehr als € 51,59 gefordert wird.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II (Alg II) und die Verpflichtung zur Erstattung gewährter Leistungen.
Der am 1987 geborene Kläger lebte zunächst im gemeinsamen Haushalt mit seiner am 1953 geborenen Mutter (im Folgenden DH) und deren weiteren am 1989 und 1993 geborenen Kindern (im Folgenden D und S) in F. DH bezog aus einer Tätigkeit als freie Mitarbeiterin für die M. F. ein geringes Einkommen in wechselnder Höhe, das jeweils im Folgemonat zur Auszahlung kam; Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge wurden hiervon nicht abgeführt.
Mit zwei an DH adressierten Bescheiden vom 4. Juli 2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger und den übrigen Familienmitgliedern jeweils Alg II für die Zeiträume vom 1. Juli bis 31. Dezember 2007 sowie vom 1. Januar bis 31. März 2008. Dabei wurde dem Kläger eine monatliche Leistung in Höhe von € 307,83 (€ 125,07 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und € 182,76 Kosten der Unterkunft und Heizung) gewährt. Neben den nach Kopfteilen berechneten Kosten der Unterkunft und Heizung wurde beim Kläger als Bedarf die Regelleistung i.H.v. € 278.- angesetzt. Gleiches gilt für D und S. Bei DH wurde neben der Regelleistung i.H.v. € 347.- zusätzlich ein Mehrbedarf wegen Allererziehung i.H.v. € 42.- monatlich berücksichtigt. Beim Kläger sowie D und S wurde das jeweilige Kindergeld i.H.v. € 154.- monatlich als Einkommen angerechnet, beim Kläger und D nach Abzug einer Versicherungspauschale jeweils i.H.v. € 30.- monatlich. Des Weiteren wurde ein Einkommen der DH aus Erwerbstätigkeit i.H.v. € 133,34 monatlich (€ 266,67 abzüglich Freibeträge in Gesamthöhe von € 133,33) berücksichtigt und auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft aufgeteilt; auf den Kläger entfielen danach € 28,93 monatlich. Die Bescheide wurden nicht angefochten.
Am 15. November 2007 teilte DH dem Beklagten mit, dass der Kläger eine Ausbildung in Villingen-Schwenningen aufgenommen habe und seit dem 1. November 2007 dort auch beim Einwohnermeldeamt gemeldet sei; die entsprechende Meldebestätigung wurde vorgelegt. Er werde während der Ausbildung Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) erhalten. In der Folge übersandte sie des Weiteren eine Bescheinigung der Musikschule über ihr von dort bezogenes Einkommen im Jahr 2007, wonach sie u.a. für Juli 2007 € 461,11 sowie für September € 369,44 erhalten habe.
Während der Beklagte mit Bescheiden vom 5. Mai 2008 für die Monate Juli und September 2007 die Leistungsbewilligungen zugunsten u.a. auch des Klägers abänderte, hob er ohne vorherige Anhörung mit an den Kläger gerichteten Bescheid vom 7. Mai 2008 “die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.08. bis ...