Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Ad-hoc-Betriebsprüfung. Insolvenz. Beitragsnachforderung. Insolvenzverfahren. Insolvenzforderung. Verdrängung der zugunsten der Rentenversicherungsträger in 28p Abs 1 Satz 5 SGB 4 geregelten Befugnis zum Erlass von Verwaltungsakten
Leitsatz (amtlich)
Insolvenzforderungen iSv § 38 InsO können - anders als Masseverbindlichkeiten - wegen des aus § 87 InsO folgenden und rechtsgebietsübergreifend geltenden Grundprinzips, dass Insolvenzgläubiger aus dem begrenzten Schuldnervermögen gleichmäßig und gemeinschaftlich zu befriedigen sind, seitens der öffentlichen Hand nicht durch Verwaltungsakt festgesetzt werden. Dies gilt auch für Sozialversicherungsträger. Die zugunsten der Rentenversicherungsträger in 28p Abs 1 Satz 5 SGB IV geregelte Ermächtigung, in Betriebsprüfungsverfahren Grundlagenbescheide zu erlassen, wird infolgedessen verdrängt.
Normenkette
SGB IV § 28h Abs. 1 Sätze 2-3, § 28p Abs. 1 Sätze 5, 3; SGB X § 31 S. 1; InsO §§ 38, 87, 89 Abs. 1, § 174 Abs. 1, 2 S. 1, § § 178, § 179; ZPO § 240; VwGO § 162 Abs. 2 S. 2; SGG § 197a
Verfahrensgang
SG Berlin (Urteil vom 06.07.2021; Aktenzeichen S 182 BA 221/20) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juli 2021 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die ihre Kosten selbst zu tragen haben.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegenüber dem klagenden Insolvenzverwalter bekanntgegebenen Betriebsprüfungsbescheid der Beklagten.
Über das Vermögen der P gesellschaft mbH (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin) eröffnete das Amtsgericht Charlottenburg mit Beschluss vom 12. Dezember 2019 ( 36p IN 5794/19 ) das Insolvenzverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter.
Anlässlich der Eröffnung des Insolvenzverfahrens führte die Beklagte am 2. Juni 2020 für die Zeit vom 1. Juni 2019 bis zum 11. Dezember 2019 eine Betriebsprüfung bei der Insolvenzschuldnerin durch. Nach Anhörung stellte sie mit Bescheid vom 4. Juni 2020 für die Monate Juli bis August sowie Dezember 2019 sich aus der Prüfung ergebende Insolvenzforderungen in Höhe von insgesamt 1.540,44 Euro fest. Der Bescheid nebst Anlagen stelle Beiträge als Insolvenzforderungen nach § 38 Insolvenzordnung (InsO) fest, die nach §§ 187 ff. InsO zu befriedigen seien. Sie würden von der zuständigen Einzugsstelle nach § 175 InsO zur Tabelle gemeldet. Eine Zahlungsaufforderung sei damit nicht verbunden. Es seien keine Beitragsnachweise an die Beigeladene zu 1. übermittelt worden. Bei der Beigeladenen zu 2. habe der gebuchte Beitragsnachweis korrigiert werden müssen, da er nicht in der richtigen Höhe eingereicht worden sei. Die Zusammenstellung der zu wenig gezahlten Beiträge ergebe sich aus der Anlage - „Berechnung der Beiträge“ - zum Bescheid. Die weitere Anlage - „Nachweis der Beiträge“ - gelte als Beitragsnachweis für die Sollstellung der jeweiligen Einzugsstelle.
Der Kläger erhob gegen den Bescheid - vertreten durch die bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei, der er als Rechts- und Fachanwalt für Insolvenzrecht ebenfalls angehört - Widerspruch mit der Begründung, die Beklagte dürfe die geltend gemachten Forderungen nicht durch Verwaltungsakt festsetzen (Schreiben vom 2. Juli 2020). Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung könnten nur Masseverbindlichkeiten und nicht Insolvenzforderungen mittels Bescheids geltend gemacht werden. Auch der Erlass von Grundlagenbescheiden sei für Insolvenzforderungen unzulässig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 3. September 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Rentenversicherungsträger seien befugt, im Rahmen einer Prüfung nach§ 28p Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) anlässlich eines eröffneten Insolvenzverfahrens Nachforderungsbescheide zu erlassen, wie aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 28. Mai 2015 (- B 12 R 16/13 R -) folge. Im Vergleich zur Finanzverwaltung existiere im Sozialversicherungsrecht ein zweigeteiltes Verfahren. Die Rentenversicherungsträger seien zwar prüfende Institution, jedoch nicht Gläubiger des Gesamtsozialversicherungsbeitrags. Dies seien die Einzugsstellen. Der Rentenversicherungsträger prüfe im Rahmen der Betriebsprüfung das „Beitrags-Soll“ und stelle dies mittels eines Bescheids ohne Zahlungsaufforderung fest. Die Feststellungen dienten den Einzugsstellen als bindende Grundlage für deren Forderungsanmeldung zur Insolvenztabelle. Das insolvenzrechtliche Feststellungsverfahren werde hierdurch nicht umgangen. Materiell-rechtlich sei der Bescheid vom Kläger nicht beanstandet worden.
Der Kläger hat am 29. September 2020 vor dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben mit der Begründung, die Beklagte sei nicht berechtigt, bei Insolvenzforderungen eine Festsetzungsentscheidung in einem Grundlagenbescheid zu treffen. Die jahrzehntelange Praxis der ...