Entscheidungsstichwort (Thema)

Witwerrentenbezug. Rückforderung der überzahlten Leistung wegen nicht angezeigter Wiederheirat. Zeitraum von über zehn Jahren. grobe Fahrlässigkeit

 

Orientierungssatz

1. Eine Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes ist nach § 45 Abs 3 S 4 SGB 10 auch jenseits der Zehn-Jahresfrist möglich, wenn eine laufende Geldleistung - hier eine Witwerrente - bis zum Beginn des Verwaltungsverfahren über die Aufhebung gezahlt wurde.

2. Bei dem subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff (vgl BSG vom 5.9.2006 - B 7a AL 14/05 R = SozR-4300 § 144 Nr 15, und BSG vom 23.7.1996 - 7 RAr 14/96 = SozR 3-4100 § 105 Nr 4) handelt grob fahrlässig, wer auf Grund einfachster und ganz nahe liegender Überlegungen hätte erkennen können, dass er zur Mitteilung eines Umstandes verpflichtet war, oder wer dasjenige unbeachtet gelassen hat, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen. Hierbei sind auch die persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit sowie das Einschätzungsvermögen des Betroffenen zu berücksichtigen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 01.07.2010; Aktenzeichen B 13 R 77/09 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21.08.2008 geändert und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Umstritten sind die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung einer Witwerrente und die Verpflichtung des Klägers, die erhaltenen Rentenzahlungen zu erstatten.

Der am 00.00.1947 in der Türkei geborene Kläger übersiedelte 1970 in die Bundesrepublik. Hier heiratete er im Jahre 1974 die am 00.00.1953 geborene und am 00.00.1990 verstorbene Versicherte. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Auf seinen Antrag hin bewilligte die Beklagte dem Kläger Witwerrente ab dem 01.05.1950 in Höhe von 435,52 DM monatlich (Bescheid vom 19.11.1990), die unter Anrechnung des Einkommens aus einer abhängigen Beschäftigung des Klägers gezahlt wurde. Der Bewilligungsbescheid vom 19.11.1990 enthielt unter der Überschrift "Auflagen und Vorbehalte" folgenden Passus: "Die hiermit getroffenen Feststellungen beruhen auf den hier vorliegenden Unterlagen. Sie können auf ihre Richtigkeit überprüft werden, wenn sich herausstellt, dass die vorliegenden Unterlagen unvollständig oder unrichtig sind. Sie sind verpflichtet, uns sofort von einer Wiederheirat Mitteilung zu machen."

Am 00.00.1991 heiratete der Kläger erneut. Dies teilte er der Beklagten nicht mit. Die Beklagte erhielt zunächst auch nicht anderweitig Kenntnis von der Eheschließung. Insbesondere wegen des schwankenden Erwerbseinkommens des Klägers erging in der Folgezeit eine Vielzahl von Änderungsbescheiden betreffend die Höhe der Witwerrente. Auf der Grundlage einer Vereinbarung mit seinem Arbeitgeber vom 16.12.2002 befand sich der Kläger ab dem 01.02.2003 in Altersteilzeit. Vor diesem Hintergrund berücksichtigte die Beklagte bei den laufenden Rentenzahlungen ab dem 01.07.2005 ein monatliches Einkommen von 1.364,52 EUR. Da aufgrund aktualisierter Angaben aus Sicht der Beklagten für die Zeit ab dem 01.07.2006 ein noch höheres Einkommen zu berücksichtigen war, dessen Anrechnung zur Einstellung der Rentenzahlung führte, hob sie mit Bescheid vom 10.08.2006 den Bewilligungsbescheid für die Zeit ab dem 01.07.2006 auf und verpflichtete den Kläger zu Erstattung der für den Zeitraum vom 01.07. bis 31.07.2006 eingetretenen Überzahlung in Höhe von 207,35 EUR auf der Grundlage der §§ 48, 50 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, mit dem er geltend machte, sein tatsächliches Einkommen werde sich ab dem nächsten Jahr wesentlich reduzieren, da er in Frührente gehen werde. Die geforderte Überzahlung erstattete er unter Vorbehalt. Der dem Widerspruch beigefügten Lohnabrechnung des Arbeitgebers für den Monat Juli 2006 war zu entnehmen, dass der Kläger dort als Verheirateter geführt wurde. Eine Entscheidung über den Widerspruch traf die Beklagte in der Folgezeit nicht.

Im April 2007 kam es zu einem Kontakt zwischen dem Kläger und dem Servicezentrum der Beklagten in H. In diesem Zusammenhang gelangte eine Kopie des türkischen Standesregisters (Nüfus) des Klägers zu den Verwaltungsakten, aus dem sich dessen Wiederheirat einschließlich des Heiratsdatums ergibt. Nach interner Überprüfung erging hierauf unter dem 05.07.2007 ein Anhörungsschreiben der Beklagten, mit dem sie dem Kläger einen Bescheidentwurf übersandte. Nach dem Inhalt dieses Entwurfes beabsichtigte sie, den Bescheid vom 19.11.1990 nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X mit Wirkung vom 01.08.1991 teilweise aufzuheben und die für den Zeitraum vom 01.08.1991 bis zum 30.06.2006 zu Unrecht erbrachten Leistungen in Höhe von 31.667,92 EUR zurückzufordern. Der Kläger äußerte sich dazu nicht, woraufhin die Beklagte unter dem 20.08.2007 einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit dem angekündigten Inhalt erließ. Zur Begründung führte sie aus, der Anspruch auf Witwerrente sei gemäß § 100 Ab...

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