Entscheidungsstichwort (Thema)
Insolvenzgeldanspruch. Versäumung der Antragsfrist. Einräumung einer Nachfrist. Zurechnung eines Drittverschuldens. gemeinschaftskonforme Auslegung. Beauftragung oder Hilfeleistung bzw Gefälligkeit des täglichen Lebens. Weiterleitung des Antrages durch Mitarbeiter des Insolvenzverwalters
Orientierungssatz
1. Dem Antragsteller auf Insolvenzgeld ist eine Nachfrist von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes einzuräumen, wenn er die Antragsfrist unverschuldet versäumt hat. Bei der Frage der Zurechnung des Verschuldens eines Dritten ist zu unterscheiden, ob dieser ausdrücklich mit der Antragstellung beauftragt war oder dem Antragsteller bei der Weiterleitung des Antrags lediglich seine Hilfe angeboten hat.
2. Für eine zurückhaltende Zurechnung fremden Verschuldens spricht die Überlegung einer gemeinschaftskonformen Auslegung des § 324 Abs 3 SGB 3 entsprechend der Entscheidung des EuGH vom 18.9.2003 - C-125/01 = Slg 2003, I-9375-9408 = SozR 4-4300 § 324 Nr 1. Danach ist eine Zurechnung des Verschuldens Dritter dann vorzunehmen, wenn der Dritte ausdrücklich mit der Stellung des Antrags beauftragt worden ist, nicht aber schon dann, wenn dieser bei Gelegenheit der Ausfüllung des Antrags anbietet, den Antrag an die Behörde weiterzuleiten.
3. Eine Zurechnung des Drittverschuldens kommt nur in Betracht, wenn objektive Umstände vorliegen, die erkennbar machen, dass der Dritte sich verpflichten will, für den Arbeitnehmer dessen Anspruch auf Insolvenzgeld zu verfolgen. Bietet der Dritte nur einmalig bei Gelegenheit an, den Insolvenzantrag an die Behörde zu übermitteln, so handelt es sich um eine Gefälligkeit des täglichen Lebens, aus der ein Rechtsbindungswille nicht zu entnehmen ist. Eine Zurechnung dessen Verschuldens kommt dann nicht in Betracht.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.07.2010 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2008 verurteilt, dem Kläger Insolvenzgeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger die Frist für die Gewährung von Insolvenzgeld versäumt hat.
Der 1964 geborene Kläger war als geringfügig beschäftigter Lagerhelfer bei der Firma I Transporte GmbH beschäftigt, über deren Vermögen am 16.05.2007 das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Der Beigeladene ist zum Insolvenzverwalter bestellt worden.
Der Kläger suchte im Juni 2007 mit einem Antrag auf Insolvenzgeld das Büro des Beigeladenen auf. Im gleichen Gebäude befindet sich das Steuerbüro K, in dem der Zeuge H beschäftigt ist, der für den Beigeladenen im Rahmen des Insolvenzverfahrens tätig ist. Der Zeuge begab sich von seinem Arbeitsplatz in das Büro des Beigeladenen, um dem Kläger bei der Ausfüllung des Antrags behilflich zu sein. Der Kläger füllte den Antrag mit den Angaben zur Person und zur Kontoverbindung aus und unterschrieb den Antrag. Der Zeuge H bot dem Kläger dann an, den Antrag an die Beklagte weiterzuleiten. Nach seiner Darstellung will er den Antrag sofort per Fax an die Agentur für Arbeit in N übermittelt haben. Ein Sendeprotokoll liegt nicht vor; bei der genannten Agentur ist auch kein Eingang festzustellen. Bei späterer Nachfrage der Kläger erhielt er von dem Zeugen H die Auskunft, es sei alles in Ordnung.
Mit Schreiben vom 12.09.2007, bei der Beklagten eingegangen am 17.09.2007, übersandte der Beigeladene "den noch fehlenden Insolvenzgeldantrag" des Klägers. Beigefügt war der vom Kläger ausgefüllte Insolvenzgeldantrag. Die Übersendung erfolgte nach einem Telefonat eines Mitarbeiters der Beklagten mit dem Büro des Beigeladenen, bei dem mitgeteilt worden war, dort liege ein vom Kläger ausgefüllter Antrag vor. Der Kläger hatte nach dem Vermerk zuvor bei der Beklagten nachgefragt und erfahren, dass kein Insolvenzgeldantrag von ihm vorliege. Mit Schreiben vom 24.09.2007 teilte der Beigeladene der Beklagten mit, nach der Erinnerung von Herrn H habe dieser gemeinsam mit dem Kläger den Insolvenzgeldantrag ausgefüllt. Er habe diesen Antrag sofort per Fax der Beklagten zugesandt. Es erscheine durchaus denkbar, dass der per Fax übersandte Insolvenzgeldantrag möglicherweise auch im Hause der Beklagten verloren gegangen sei. Dies sei allerdings nicht aufklärbar. In jedem Fall sei die eingetretene Fristversäumung nicht vom Kläger zu vertreten.
Mit Bescheid vom 02.10.2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf Insolvenzgeld wegen Versäumung der Antragsfrist ab. Vom Kläger nicht zu vertretende Gründe, aus denen die Antragsfrist versäumt worden sei, seien nicht erkennbar. Er habe den Antrag auf Insolvenzgeld beim Insolvenzverwalter abgegeben, für die Einhaltung der Ausschlussfrist sei jedoch der tatsächliche Eingang bei der Arbeitsagentur maßgebend. Eine Antragstellung per Fax könne nicht bestätigt werden. Somit könne eine Nachfrist im Sinne ...