Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch. Territorialitätsprinzip. grenznaher Auslandswohnsitz. Erfüllung der übrigen Leistungsvoraussetzungen. verfassungskonforme Auslegung. kein Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts
Orientierungssatz
1. Art 3 Abs 1 GG gebietet eine verfassungskonforme Auslegung des § 30 Abs 1 SGB 1 dahingehend, dass dem Anspruch eines zuvor in Deutschland beitragspflichtigen Grenzgängers auf Arbeitslosengeld der grenznahe Auslandswohnsitz jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind (vgl BVerfG vom 30.12.1999 - 1 BvR 809/95 = SozR 3-1200 § 30 Nr 20 und BSG vom 7.10.2009 - B 11 AL 25/08 R = BSGE 104, 280 = SozR 4-1200 § 30 Nr 5).
2. Art 65 EGV 883/2004 kann nicht dazu führen, einen bereits nach innerstaatlichem Recht bestehenden Anspruch auf Arbeitslosengeld zu vereiteln, zumal er als Konkretisierungsnorm für das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Ansprüche auf staatliche Leistungen sichern bzw erhalten soll.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 27.02.2012 abgeändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2011 verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld in der Zeit vom 01.07.2011 bis 29.02.2012 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Arbeitslosengeld ab dem 01.07.2011. Streitig ist, ob die in den Niederlanden wohnende Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitslosengeldanspruch erworben hat.
Die am 00.00.1976 geborene Klägerin meldete sich am 01.07.2011 bei der Beklagten, Geschäftsstelle F. der Agentur für Arbeit L., arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Sie gab als Wohnort an "Q.-Str. 00, AH T1." (Niederlande). Die Entfernung zwischen T1./NL und F. beträgt ca. 6,9 km und ist mit dem PKW innerhalb von ca. 13 Minuten zu bewältigen, zwischen T1. und L. ca. 18 km bei einer Fahrtzeit von ca. 25 Minuten. Im Antrag auf Arbeitslosengeld gab die Klägerin an, dass sie alle Möglichkeiten nutzen werde, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden. Sie wolle jedoch höchstens 24 Stunden wöchentlich an drei Tagen arbeiten.
Zuvor, in der Zeit vom 16.08.2001 bis zum 30.06.2011, übte die Klägerin als kaufmännische Angestellte eine versicherungspflichtige Beschäftigung in F. aus, zuletzt mit einen Brutto-Arbeitsentgelt in Höhe von 1.630,00 EUR. Ausweislich der Arbeitsbescheinigung der Firma P.G. L1. Import-Export GmbH F.h vom 05.04.2011 lagen zudem folgende Unterbrechungszeiten vor:
25.09.2008 bis 06.01.2009 Mutterschaft
07.01.2009 bis 01.11.2009 Elternzeit
16.02.2010 bis 25.05.2010 Mutterschaft
26.05.2010 bis 17.03.2011 Elternzeit.
Mit Bescheid vom 30.08.2011 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, nach Artikel 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 sei für eine vollarbeitslose Person der Mitgliedsstaat zuständig, in dem diese Person wohne. Die Klägerin habe ihren Wohnsitz in den Niederlanden, daher seien die Niederlande der für sie zuständige Wohnmitgliedsstaat. Auch nach § 327 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) komme es für die Zuständigkeit der Agentur für Arbeit darauf an, wo der Arbeitnehmer bei Eintritt der leistungsbegründenden Tatbestände seinen Wohnsitz habe. Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland habe die Klägerin daher nicht.
Gegen den Bescheid legte die Klägerin am 08.09.2011 Widerspruch ein und wies darauf hin, dass sie sich bei Bekanntgabe ihrer bevorstehenden Arbeitslosigkeit direkt in ihrem Wohnstaat arbeitslos gemeldet und für den Bezug von Arbeitslosengeld habe eintragen lassen. Sie habe jedoch mit Bescheid der UWV (Anm.: Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen = [ niederländische] Ausführungsbehörde für Arbeitnehmerversicherungen) vom 22.07.2011 eine Ablehnung erhalten, da sie nach Aussage der UWV nicht die geforderten 26 Wochen gearbeitet habe. Die Elternzeit werde in den Niederlanden nicht berücksichtigt. Von der Agentur für Arbeit in F. habe sie den Rat erhalten, Arbeitslosengeld in Deutschland zu beantragen. Sie habe bisher immer in Deutschland gearbeitet und in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und verstehe jetzt nicht, dass sie jetzt keinen Anspruch geltend machen könne. Den entsprechenden Bescheid der UWV vom 22.07.2011 legte die Klägerin vor.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2011 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass nach Artikel 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 für die Gewährung von Leistungen im Falle der Vollarbeitslosigkeit immer das Wohnsitzland zuständig sei. Diese Regelung sei eindeutig und könne nicht durchbrochen werden. Die Tatsache, dass der niederländische Sozialversicherungsträger keine Leistungen erbringe, weil die do...