Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen. Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente. Verfassungsmäßigkeit. Anhörungsmangel. Nachholung im Widerspruchsverfahren. Heilung. formelle Rechtswidrigkeit des Aufforderungsbescheides bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 12a SGB II.

2. Ein Anhörungsmangel, der einen belastenden Bescheid formell rechtswidrig macht, wirkt sich im Fall der Nachholung der Anhörung im Widerspruchsverfahren in einem sich ggf anschließenden Klageverfahren nicht mehr aus (vgl BSG vom 25.1.1979 - 3 RK 35/77 = SozR 1200 § 34 Nr 7). Er ist dann unbeachtlich; der Bescheid ist dann so anzusehen, als sei er von Anfang an mangelfrei gewesen (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X).

3. Solange jedoch über den Widerspruch noch nicht entschieden worden ist, kann sich der Betroffene auf die formelle Rechtswidrigkeit aufgrund der fehlenden Anhörung berufen. Mit Zugang des Widerspruchsbescheides fällt dieser Einwand weg (vgl LSG Halle vom 5.6.2015 - L 4 AS 237/15 B ER, juris).

 

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragstellerin) begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Aufforderung des Antrags- und Beschwerdegegners (im Folgenden: Antragsgegner), vorzeitig einen Altersrentenantrag zu stellen.

Die am ... 1952 geborene Antragstellerin bezieht mit ihrem Ehemann G. G. als Bedarfsgemeinschaft vom Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit vorläufigem Bescheid vom 13. Juli 2015 bewilligte er für die Bedarfsgemeinschaft monatliche Leistungen von insgesamt 727,86 EUR und für die Antragstellerin 363,93 EUR für den Zeitraum vom 1. August 2015 bis 31. Januar 2016. Mit Änderungsbescheid vom 28. Oktober 2015 erhöhte der Antragsgegner für Januar 2016 den Betrag auf 737,54 EUR. Für die Zeit vom 15. Juni bis 30. September 2015 schlossen die Beteiligten eine Eingliederungsvereinbarung. Hiernach sollte die Antragstellerin ab Anfang Oktober 2015 beim zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf Altersrente stellen. Im Schreiben vom 27. Juli 2015 rügte die Antragstellerin diese Verpflichtung und machte geltend: Sie sei vom Antragsgegner nicht darüber aufgeklärt worden, welche Folgen eine vorgezogene Altersrente für sie habe. Der Antragsgegner müsse Ermessenserwägungen anstellen und beachten, dass beim 14. Senat des BSG zu § 12a SGB II zwei Verfahren anhängig seien (B 14 AS 1/15 R und B 14 AS 3/15).

Am 5. Oktober 2015 teilte die Antragstellerin mit, dass sie seit dem 1. August 2015 geringfügig beschäftigt sei und für 12 Stunden im Monat 102,00 EUR Lohn erhalte. Mit Schreiben vom 16. September 2015 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin auf, eine aktuelle Rentenauskunft vorzulegen. Am 26. Oktober 2015 ging beim Antragsgegner eine Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung vom 7. August 2015 ein. Hiernach würde eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 7. August 2015 662,46 EUR und die Regelaltersrente am 1. Juli 2018 670,52 EUR betragen. Bei einem frühestmöglichen Rentenbeginn am 1. Januar 2016 mindere sich die Rente um 9,0 %. Bezüglich der Zeiten vom 1. Januar bis 31. Dezember 2011 bestehe hinsichtlich des Rentenkontos noch Klärungsbedarf. In einer weiteren Rentenauskunft vom 24. September 2015 erklärte die Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland: Zum 1. Juli 2018 betrage die Regelaltersrente der Antragstellerin 673,86 EUR. Der Krankenkassenbeitrag betrage dabei 49,19 EUR (= 14,6 %) und der Beitrag für die Pflegeversicherung 5,84 EUR (= 2,35 %). Frühester Rentenbeginn wäre der 1. Januar 2016, was zu einer Rentenminderung von 9 % führen würde. Die Versicherungszeit des Jahres 2011 sei immer noch ungeklärt.

Mit Anhörungsschreiben vom 28. Oktober 2015, dessen Zugang die Antragstellerin bestreitet, gab der Antragsgegner der Antragstellerin Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Aufforderung nach § 12a SGB II. Mit Bescheid vom 16. November 2015 forderte er die Antragstellerin auf, umgehend einen entsprechenden Rentenantrag zu stellen, und führte zur Begründung aus: Die Antragstellerin falle nicht unter die Sonderregelung des § 65 Abs. 4 SGB II, da sie nicht vor dem 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr vollendet habe. Die Ausnahmen nach der Unbilligkeitsverordnung seien nicht gegeben. Die Antragstellerin habe ihre letzte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Dezember 1995 gehabt. Eine Teilnahme an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme des zweiten Arbeitsmarktes sei im Jahr 2011 aus gesundheitlichen Gründen gescheitert. Nach der Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland hätte die Antragstellerin bei Erreichen der Regelaltersrente am 1. Juli 2018 eine monatliche Rente von 673,8...

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