Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Überprüfungsantrag. Aufhebung der Leistungsbewilligung wegen Einkommenserzielung. Überzahlung durch Verwaltungsfehler. keine Überprüfung der bestandkräftigen ursprünglichen Leistungsbewilligung. kein tatsächlicher Einkommenszufluss bei verspäteter Auszahlung im Folgemonat. keine Beschränkung der Rückforderung bei Teilaufhebung. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. In Fällen der nachträglichen Einkommensanrechnung gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB 10 führt die Bestandskraft der ursprünglichen Bewilligungsentscheidung dazu, dass Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle nur die angefochtene Aufhebungsentscheidung und der dieser zu Grunde liegende Sachverhalt sind (bisher ständige Rechtsprechung des Senats in Fällen einer vollständigen Aufhebung der bewilligten Leistungen; Anschluss an BSG vom 30.9.2008 - B 4 AS 29/07 R = BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15 und vom 13.7.2010 - B 8 SO 11/09 R = FEVS 62, 298). Denn die Bestandskraft der ursprünglichen Leistungsbewilligung erfasst auch die Bedarfsberechnung. Über § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 erfolgt keine allgemeine Fehlerkorrektur.
2. Dies gilt nicht, wenn im Rahmen des Rechtsbehelfs gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid Einwände hinsichtlich der bestandskräftig bewilligten Leistungen geltend gemacht werden. Diese sind als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB 10 zu behandeln.
Orientierungssatz
1. § 44 Abs 1 SGB 10 ist auch auf die Rückforderung von Sozialleistungen anwendbar (vgl BSG vom 12.12.1996 - 11 RAr 31/96 = SozR 3-1300 § 44 Nr 19).
2. Die Aufhebung der ursprünglichen Leistungsbewilligung für die Vergangenheit wegen Einkommenserzielung gem § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 ist grundsätzlich auch dann zulässig, wenn die Überzahlung allein durch den Leistungsträger verschuldet ist.
3. Die vollständige rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung gem § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 für einen Monat, in dem trotz Berücksichtigung des zugeflossenen Erwerbseinkommens noch ein (Rest-)Leistungsanspruch bestand, weil in diesem Monat zwar ein Anspruch auf Krankengeld bestand, dieses jedoch erst im Folgemonat ausgezahlt wurde, ist teilweise rechtswidrig.
4. Ist wegen eines verbleibenden Leistungsanspruchs für den betreffenden Monat nur eine Teilaufhebung der Leistungsbewilligung zulässig, so kann die Vorschrift des § 40 Abs 2 S 1 SGB 2 über die Beschränkung der Erstattung der Leistungen für die Unterkunft nicht angewandt werden. Die Nichtanwendung des § 40 Abs 2 S 1 SGB 2 auf Teilaufhebungen verletzt nicht Art 3 Abs 1 GG.
Tenor
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 17. August 2009 wird geändert und der Bescheid des Beklagten vom 17. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. April 2007 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 6. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2006 zurückzunehmen, soweit die Leistungsbewilligung für November 2005 über den Betrag von 428,75 EUR hinaus aufgehoben und für den gesamten Zeitraum ein über 1.336,33 EUR hinausgehender Betrag zur Erstattung gestellt worden ist. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin und Berufungsklägerin wendet sich im Überprüfungsverfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten.
Die im Jahr 1951 geborene, seit dem Jahr 2000 dauernd getrennt lebende Klägerin stellte am 12. Juli 2005 bei dem Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Am 15. Juli 2005 beantragte sie die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, zum 1. August 2005 gab sie ihr Gewerbe (Telekommunikationsdienstleistungen, Internetzugänge u.a.) auf und kündigte ihr Geschäftslokal.
Gemeinsam mit ihrem Angestellten, Herrn R H ..., bewohnte die Klägerin eine 56 m² große Wohnung, für die ab Oktober 2005 eine Gesamtmiete iHv 459,73 EUR (Kaltmiete: 260,73 EUR, Heizkosten inklusive Warmwasser: 142,00 EUR, Betriebskosten: 57,00 EUR) zu zahlen war. Nach der Vermieterbescheinigung waren die Klägerin und R H ... Mieter der Wohnung. Die Klägerin bezeichnete ihren Mitbewohner als Untermieter und legte einen am 6. Juni 2005 geschlossenen Untermietvertrag vor, den der Beklagte nicht als relevant erachtete.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 3. August 2005 bewilligte der Beklagte u.a. für die Zeit vom 1. August 2005 bis zum 31. Januar 2006 Leistungen an die Klägerin iHv 542,75 EUR. Neben der Regelleistung iHv 331,00 EUR berücksichtigte er Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) iHv insgesamt 211,75 EUR.
Am 1. Oktober 2005 nahm die Klägerin eine auf ein halbes Jahr befristete geförderte Beschäftigung im Rahmen des Projekts "Tradition und Zukunft" auf. Eine wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden wur...