Dipl.-Ing. Cornelia von Quistorp
Durch die Einnahme von Medikamenten kann sich die körperliche, psychische und seelische Belastbarkeit des Menschen erheblich verändern. Ob und wie stark derartige Veränderungen auftreten, ist kaum präzise vorherzusagen. Gründe dafür sind:
- die große Zahl pharmazeutisch eingesetzter Wirkstoffe und Kombinationen,
- die unterschiedlichen Wirkungsweisen und Darreichungsformen von Medikamenten,
- die persönliche Disposition des Betroffenen (genetische Disposition, Gesundheitszustand, Ernährung usw.),
- Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder Substanzen, z. B. Alkohol.
Die gängigen Warnhinweise, die Medikamenten beigegeben werden müssen, sind daher als nach bestimmten Kriterien abgestufte Erfahrungswerte aus Test und Anwendung der Präparate zu verstehen. Ob und inwieweit sie auf den Einzelfall zutreffen, ist nicht einmal für einen Mediziner, viel weniger noch für medizinische Laien konkret vorherzusagen.
Hinzu kommt, dass die Hersteller aus nachvollziehbaren Gründen ihren Produkten nicht selten vorsorglich sehr umfassende Warnungen mitgeben ("Fähigkeit zur Teilnahme am Straßenverkehr bzw. zum Führen von Maschinen kann eingeschränkt sein"). Sie sichern sich damit im Hinblick auf seltene Komplikationen ab, ohne dass das Risiko näher eingegrenzt werden könnte.
In der betrieblichen Praxis wirft das dann Probleme auf, wenn Medikamente mit potenziell kritischen Wirkungen oder Nebenwirkungen über längere Zeiträume einzunehmen sind, der Betroffene aber grundsätzlich nicht arbeitsunfähig krank ist. Das kann z. B. der Fall sein bei:
- Anfallkrankheiten
- Hirnverletzungen oder -operationen
- psychischen Erkrankungen
- chronischen starken Schmerzen
Um in solchen Fällen die Frage zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen Betroffene unter Medikamenteneinfluss beschäftigt werden können, sind unterschiedliche Kompetenzen erforderlich. Außer dem Betroffenen und der zuständigen Führungskraft sollten beteiligt sein:
- Betriebsarzt
- Sicherheitsfachkraft
- ggf. Betriebsrat
- behandelnder Arzt, falls möglich und erforderlich
Folgende Fragen sind zu klären:
- Wie groß ist das medizinische Risiko, dass es durch die Medikamente zu gefährlichen Situationen kommen kann?
- Wie groß ist das technische Risiko, dass es durch einen medikamentenbedingten Ausfall zu einer Gefährdung kommt? Lässt sich dieses Risiko ggf. durch zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen (Vermeidung von Alleinarbeit, Änderung der Tätigkeit, Auslagerung kritischer Tätigkeiten, technische Überwachung) verringern?
Hilfreich in schwierigen Entscheidungsprozessen können sein:
- Informationen von Berufsgenossenschaften oder Integrationsämtern, bei denen u. U. Erfahrungen mit ähnlich gelagerten Fällen bestehen;
- Kriterien und/oder Fristen festlegen, nach denen getroffene Entscheidungen wieder überprüft werden sollen;
- ggf. auch konkrete Tests (falls der Betroffene zustimmt), die zwar aufwendig sind, aber bei lang andauernden oder chronischen Krankheitsverläufen sinnvoll sein können.
Der gesamte Entscheidungsprozess sollte in Form einer Gefährdungsbeurteilung dokumentiert werden.
Pauschale Risikoeinschätzungen führen nicht weiter
In Fällen von krankheits- bzw. medikamentenbezogenen Tauglichkeitsbeurteilungen (z. B. bei Anfallskranken) tun sich häufig sowohl behandelnde Ärzte als auch Betriebsärzte schwer, eine Unbedenklichkeitserklärung abzugeben, wenn nach fachärztlicher Einschätzung bzw. Angaben der Medikamentenhersteller eine kritische Situation am Arbeitsplatz des Betroffenen nicht völlig auszuschließen ist.
In vielen Fällen ist es sicher nicht angebracht, den Betroffenen aufgrund oft eher theoretischer Risiken auf lange oder unbestimmbare Zeit krank zu schreiben. Das entspricht weder den unmittelbaren Interessen des Betroffenen und seines Betriebs noch dem Integrationsgedanken, nach dem Menschen mit Einschränkungen nicht pauschal aus dem Arbeitsleben ausgegrenzt werden dürfen. Alle an einem solchen Entscheidungsprozess Beteiligten müssen verstehen, dass ein 0 %-Risiko hier nicht das alleinige Ziel einer Sicherheitsüberlegung sein kann, sondern dass es vielmehr darum geht, ob z. B. durch eine medikamentöse Behandlung ein wesentlich erhöhtes Risikopotenzial besteht.