BMF, Schreiben v. 4.5.2007, IV A 7 - S 0623/07/0002, BStBl I 2007, 472
Bezug: TO-Punkt 17 der Sitzung AG AO I/2007 vom 25. bis 27.4.2007
Das Niedersächsische Finanzgericht und das Finanzgericht des Saarlandes haben mit Beschlüssen vom 27.2.2007, 8 K 549/06 und vom 22.3.2007, 2 K 2442/06 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die Neuregelung zur Abziehbarkeit von Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 2 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007) verfassungsgemäß ist (Az. des Bundesverfassungsgerichts: 2 BvL 1/07 und 2 BvL 2/07). Ferner hat das Niedersächsische Finanzgericht mit nicht rechtskräftigem Beschluss vom 2.3.2007, 7 V 21/07 insoweit Aussetzung der Vollziehung gewährt.
Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder gilt Folgendes:
Anträge auf Aussetzung der Vollziehung, mit denen in Rechtsbehelfsverfahren gegen die Ablehnung der Eintragung eines Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte, gegen die Festsetzung von Einkommensteuer-Vorauszahlungen oder gegen künftig ergehende Einkommensteuerbescheide für Veranlagungszeiträume ab 2007 begehrt wird, Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeits- oder Betriebsstätte über die Regelungen des § 9 Abs. 2 EStG und § 4 Abs. 5a Satz 4 EStG (in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007) hinaus steuermindernd zu berücksichtigen, sind abzulehnen. Es bestehen keine „ernstlichen Zweifel” im Sinne des § 361 Abs. 2 Satz 2 AO bzw. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO, da § 9 Abs. 2 EStG nicht gegen das Grundgesetz verstößt.
Die Neuregelung verstößt nicht gegen das Prinzip der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit. Sie verletzt weder das objektive noch das subjektive Nettoprinzip (so auch Urteil des FG Baden-Württemberg vom 7.3.2007, 13 K 283/06).
Beim objektiven Nettoprinzip handelt es sich um eine einfachgesetzliche, durch den Steuergesetzgeber bestimmte Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Gebots der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, für die das Bundesverfassungsgericht bisher offen gelassen hat, ob die Geltung dieses Prinzips auch verfassungsrechtlich geboten ist (BVerfG-Beschluss vom 4.12.2002, BStBl 2003 II S. 534). Durch die Neuregelung hat der Gesetzgeber für die Wege zwischen Wohnung und Arbeits- bzw. Betriebsstätte den Anwendungsbereich des objektiven Nettoprinzips neu definiert. Bei Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeits- oder Betriebsstätte handelt es sich – entgegen der Auffassung des Niedersächsischen Finanzgerichts und des Finanzgerichts des Saarlandes in den Beschlüssen vom 27.2.2007 (8 K 549/06) und vom 22.3.2007 (2 K 2442/06) – um sog. gemischte Aufwendungen, deren Entstehung im Einzelfall sowohl private als auch berufliche Verursachungsgründe haben kann. Indem diese Aufwendungen durch die Neuregelung unabhängig von der Entfernung künftig (einfach-)gesetzlich ausschließlich der Privatsphäre zugeordnet und somit nicht mehr als Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben angesehen werden, sind diese Aufwendungen dem Anwendungsbereich des objektiven Nettoprinzips entzogen. Der Gesetzgeber hat insoweit seinen verfassungsrechtlich anerkannten Einschätzungs- und Gestaltungsfreiraum bei der Schaffung einfachgesetzlichen Rechts in verfassungsrechtlich zulässiger Weise genutzt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 4.12.2002 (BStBl 2003 II S. 534) zur doppelten Haushaltsführung ausgeführt, es sei eine „Grundentscheidung des deutschen Einkommensteuerrechts, die steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre nicht erst „am Werkstor” beginnen zu lassen”. Der weite Einschätzungs- und Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers insbesondere bei solchen gemischten Aufwendungen schließt denknotwendig grundsätzlich auch die Befugnis ein, derartige einfachgesetzliche „Grundentscheidungen” zu ändern (so zutreffend auch Urteil des FG Baden-Württemberg vom 7.3.2007, 13 K 284/06, Juris, Rz. 23).
Die Neuregelung verletzt auch nicht das subjektive Nettoprinzip. Insbesondere kommt es durch die Neuregelung nicht – wie unzutreffend vom Niedersächsischen Finanzgericht in seinem Beschluss vom 27.2.2007 (8 K 549/06) und vom Finanzgericht des Saarlandes in seinem Beschluss vom 22.3.2007 (2 K 2442/06) vertreten wird – zu einer Besteuerung des Existenzminimums (auch nicht in unteren Einkommensklassen). Die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Familienexistenzminimums ist durch das System von Grundfreibetrag und Familienleistungsausgleich sichergestellt. Sowohl Aufwendungen für das sächliche Existenzminimum der Steuerpflichtigen als auch Aufwendungen für das sächliche Existenzminimum sowie den Betreuungs- und Erziehungsbedarf von Kindern werden entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in realitätsgerecht typisierter Höhe von der Besteuerung freigestellt (vgl. Existenzminimumberichte der Bundesregierung, zuletzt Sechster Existenzminimumbericht vom 2.11.2006, BT-Drucks. 16/3265; BVerfG-Beschlüsse vom 10.11.1998, BStBl 1999 II ...