2.1 Verhältnis des SGB IX zu anderen Büchern des SGB (z. B. SGB V)
Rz. 5
Das SGB IX verfolgt das Ziel, eine drohende Behinderung zu verhüten, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen bzw. zu mildern und die Menschen mit Behinderungen in Schule, Beruf und Gesellschaft einzugliedern. Teilhabeziele verfolgen z. B. auch das SGB V (Krankenbehandlung: Krankheit heilen, Verschlimmerung verhüten oder Krankheitsbeschwerden lindern; vgl. §§ 27 ff. SGB V). Während die Leistungen der Krankenversicherung (SGB V) ihren Schwerpunkt in der Behandlung einer Krankheit haben, liegt der Fokus beim SGB IX auf der positiven Beeinflussung einer Behinderung bzw. drohenden Behinderung, die ihre Ursache durchaus in einer Krankheit haben kann. Einzelheiten zu den Begriffen der Krankheit und Behinderung: vgl. Komm. zu § 2.
Wegen der unterschiedlichen rehabilitationsträgerspezifischen Ziele und Besonderheiten bei den Teilhabeleistungen des SGB IX musste eine Regelung geschaffen werden, die bestimmt, welches Buch des SGB vorrangig ist, wenn einzelne Bücher vom SGB IX Abweichendes regeln. Hier stellt § 7 Abs. 1 SGB IX unmissverständlich klar, dass bei abweichenden Leistungsregelungen die rehabilitationsträgerspezifischen Vorschriften und somit die trägerspezifischen Zuständigkeiten und Leistungsvoraussetzungen gelten. So ist z. B. der Rentenversicherungsträger nach wie vor nur dann zur Leistung verpflichtet, wenn die Erwerbsfähigkeit positiv zu beeinflussen ist und in der Person des Leistungsberechtigten die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§§ 9 ff. SGB VI) erfüllt sind. Auch können je nach Zuständigkeit der Rehabilitationsträger erhebliche Abweichungen in den Leistungsspektren und -umfängen auftreten, wobei zu berücksichtigen ist, dass ggf. andere Rehabilitationsträger wegen der für sie geltenden Leistungsvorschriften die durch den einen Rehabilitationsträger nicht erbrachten (Teil-)Leistungen bis zur Erfüllung des rehabilitationsträgerübergreifenden Gesamt-Leistungsanspruchs "aufzustocken" haben (vgl. u. a. BSG, Urteile v. 22.3.2012, B 8 SO 30/10 R, sowie v. 15.3.2018, B 3 KR 18/17 R).
Die Vorschriften des SGB IX finden dagegen gemäß § 7 Abs. 2 SGB IX immer Anwendung, wenn im Zusammenhang mit einer bestehenden oder drohenden Behinderung Verfahrensvorschriften (Einleitung der Rehabilitation von Amts wegen, Erkennung und Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs und Koordinierung der Leistungen, vgl. §§ 9 bis 24 SGB IX) greifen.
Einzelheiten ergeben sich aus der Komm. zu § 7 SGB IX.
2.2 Förderung der Selbstbestimmung und Teilhabe (Satz 1)
2.2.1 Überblick
Rz. 6
Nach § 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf kein Mensch wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Als Behinderung gilt gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention eine Abweichung der Gesundheit, welche nicht nur vorübergehend Barrieren aufbaut, die den betreffenden Menschen daran hindern, wie ein gesunder Mensch am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Danach zählen zum Personenkreis mit Behinderung Menschen, die langfristige (= über 6 Monate hinaus dauernde) körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Somit wird Behinderung nicht als ein fest definiertes Konzept verstanden; vielmehr ist der Begriff dynamisch auszufüllen und von den jeweiligen Wechselbeziehungen mit umweltbezogenen und personenbedingten Kontextfaktoren abhängig (vgl. Art. 1 Abs. 2 UN-BRK, Einzelheiten: vgl. Komm. zu § 2). Dadurch kommt zum Ausdruck, dass sich die Behinderung erst durch gestörte oder nicht entwickelte Interaktion zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen Umwelt manifestiert.
Zwei Rentner leiden unter einer koronaren Herzerkrankung und leben in demselben Mehrfamilienhaus – der eine in einer Wohnung im Erdgeschoss, die andere im 3. Obergeschoss. Einen Aufzug gibt es im Haus nicht. Aufgrund der Erkrankung kann der eine Rentner nicht mehr seine Wohnung im 3. Obergeschoss erreichen. Deshalb verlässt er seine Wohnung nicht mehr. Der andere Rentner hat im Alltag noch keine Einschränkungen bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben; er kann ohne Barrieren seine Wohnung betreten und verlassen und noch wie gewohnt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Bei dem Rentner, der seine Wohnung nicht mehr verlässt, liegt wegen der Teilhabeeinschränkung bereits eine Behinderung vor, bei dem anderen noch nicht.
Der Gesetzgeber strebt mit § 1 Satz 1 vor allem 3 Ziele an:
- Die Förderung der Selbstbestimmung behinderter Menschen (vgl. Rz. 7 ff.),
- die Förderung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (vgl. Rz. 7 f.) und
- die Vermeidung einer Benachteiligung gegenüber nicht behinderten Menschen (vgl. Rz. 11 f.).
Rz. 6a
Mit Einführung des SGB IX im Jahr 2001 wurde der Begriff der "Teilhabe" (Partizipation) eingeführt. Unter Teilhabe versteht man den Anspruch des behinderten bzw. chronisch kranken Menschen auf das Eingebunden-sein in das schulische, berufliche oder gesellschaftliche Leben, sei es z. ...