Rz. 14
Nach § 3 haben die Rehabilitationsträger die Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass der Eintritt einer Behinderung – einschließlich einer chronischen Krankheit – vermieden oder zumindest hinausgezögert wird. Demzufolge umfasst das Leistungsspektrum der Rehabilitationsträger gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 auch Hilfsmittel, die einer drohenden Behinderung vorbeugen sollen – also, wenn sie eine erwartbare Teilhabebeeinträchtigung verhindern.
"Von Behinderung bedroht" ist ein Mensch insbesondere dann, sobald aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse die konkrete Wahrscheinlichkeit (eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich) besteht, dass sich bei entsprechender Verschlimmerung der Krankheit in naher oder ferner Zukunft eine Behinderung einstellt, die länger als 6 Monate anhält. Einbezogen sind damit auch chronisch kranke sowie suchtkranke Menschen, soweit bei ihnen die jeweiligen Voraussetzungen gegeben sind (BT-Drs. 14/5074 S. 98) – also wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung der Körperfunktionen bzw. Sinnesorgane in dem Umfang zu erwarten ist, dass die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gestört wird. Für die Beurteilung des Vorliegens einer drohenden Behinderung ist der zu erwartende medizinische Fortschritt entsprechend zu würdigen.
Rz. 15
Sinngemäß definiert das BSG in seinem Urteil v. 7.5.2020, B 3 KR 7/19 R Hilfsmittel, welche einer drohenden Behinderung vorbeugen sollen. Danach ist ein Hilfsmittel zur Vorbeugung einer Behinderung erforderlich, "wenn ein konkretes Behinderungsrisiko besteht, und es im Schwerpunkt um die Vermeidung von krankheitsbedingten Funktionsabweichungen geht, die in sachlicher und zeitlicher Hinsicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen können. Bei bereits bestehenden krankheitsbedingten Funktionsabweichungen dient das Vorbeugen einer Behinderung der Vermeidung des Eintritts von (weiteren) zu erwartenden Teilhabebeeinträchtigungen. Es geht jeweils um das präventive Abwenden einer nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zukunft und in Form eines ansonsten nicht mehr behebbaren Dauerzustands zu erwartenden konkreten Behinderung als typische Folge einer bestimmten Krankheit so früh wie möglich (BSG, Urteil v. 22.4.2009, B 3 KR 11/07 R) […] Bei einer bereits bestehenden Behinderung dient ein Hilfsmittel (nur) zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung, wenn mit dessen Einsatz im Schwerpunkt die Verschlimmerung der vorhandenen Behinderung verhütet oder der Hinzutritt einer wertungsmäßig neuen Behinderung abgewendet wird. Dies erfordert, dass in sachlicher und zeitlicher Hinsicht die dauerhafte Verschlimmerung der bestehenden Behinderung oder der Hinzutritt einer wertungsmäßig neuen Behinderung konkret drohen, denen vorzubeugen den Schwerpunkt des Hilfsmitteleinsatzes bildet. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ist die präventive Abwendung einer drohenden weitergehenden Behinderung weder Krankenbehandlung noch Behinderungsausgleich."
Das Vorbeugen einer Behinderung bezieht sich in solchen Fällen nicht primär auf das Erkennen, Heilen, Verhüten oder Lindern von "Krankheit" i. S. v. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, sondern in erster Linie darauf, eine "Behinderung" oder "Pflegebedürftigkeit" abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre "Folgen" zu mildern (vgl. § 11 Abs. 2 SGB V; § 4 Abs. 1 Nr. 1, § 42 Abs. 1 Nr. 1; vgl. auch BSG, Urteil v. 15.3.2018, B 3 KR 18/17 R).
Demzufolge kann z. B. ein 5-jähriges Kind, das an schwerem Asthma leidet, von einer Behinderung bedroht sein; dass diese Behinderung evtl. erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter – also in ferner Zukunft – eintritt, spielt keine Rolle.
Des Weiteren können erkrankte Menschen z. B. Sturzhelme oder wattierte Hosen beanspruchen, wenn sie sich aufgrund einer erhöhten Sturzgefahr (z. B. wegen epileptischer Anfälle) schützen müssen.
Menschen mit Behinderungen können ferner Hilfsmittel zur Vorbeugung einer Verschlimmerung oder Neuentstehung einer Behinderung auch dann beanspruchen, wenn die Hilfsmittel lediglich einen therapeutischen Nutzen haben, also wenn z. B. eine Beinschiene einer sich entwickelnden Fehlstellung des Fußes entgegenwirkt.
Rz. 16
Um eine "Vorbeugung einer Behinderung" handelt es sich auch dann, wenn durch das Hilfsmittel Folgeerkrankungen vermieden werden und erst durch die Vermeidung der Folgeerkrankung eine Behinderung – also eine lang andauernde Einschränkung der Teilhabe – vermieden wird (vgl. hierzu BSG, Urteil v. 16.11.1999, B 1 KR 9/97 R).