Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Träger der freien Wohlfahrtspflege. fristlose Kündigung von Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarungen durch Sozialhilfeträger. kein Verwaltungsakt. Kenntnis aller wesentlichen Vorwürfe der Verletzung gesetzlicher und vertraglicher Verpflichtungen bei Vertragsabschluss gegen Leistungserbringer. Fortgeltung von abgelaufenen Verträgen durch faktische Weiterführung
Orientierungssatz
1. Bei der fristlosen Kündigung gem § 78 SGB 12 handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung, die auf die Beendigung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist, in dessen Rahmen die Beteiligten sich in einem Gleichordnungsverhältnis gegenüber stehen (vgl VG Bayreuth vom 17.2.2003 - B 3 K 02.433).
2. Hat der Sozialhilfeträger trotz Kenntnis aller wesentlichen Vorwürfe gegen einen Träger der freien Wohlfahrtspflege eine Vereinbarung abgeschlossen, ist ein Festhalten an dieser Vereinbarung (vorläufig) zumutbar; der Träger der Sozialhilfe verhält sich widersprüchlich, wenn er die fristlose Kündigung auf die schon bei Vertragsschluss bekannten Vorwürfe stützt.
3. Die praktizierte faktische Weiterführung von bereits abgelaufenen Verträgen durch einen Träger der freien Wohlfahrtspflege und den Sozialhilfeträger widerspricht dem bei öffentlich-rechtlichen Verträgen zwingenden Schriftformerfordernis (§ 56 SGB 10). Eine mit dem Gesetz nicht übereinstimmende Praxis kann die gesetzlichen Regelungen nicht außer Kraft setzen (vgl VGH München vom 28.8.2006 - 12 ZB 05.2419).
4. § 77 Abs 2 S 4 SGB 12 bezieht sich nur auf Vergütungsvereinbarungen und setzt das Fortbestehen einer Leistungs- und Prüfungsvereinbarung voraus (vgl VGH München vom 12.9.2005 - 12 CE 05.1725 = VGHE BY 58, 236 und SG Augsburg vom 18.8.2006 - S 15 SO 96/06 ER).
Tenor
Es wird im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig festgestellt, dass es sich bei der Kündigungserklärung des Antragsgegners vom 25. Mai 2011 nicht um einen Verwaltungsakt handelt.
Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, die Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung mit der Antragstellerin zum Aktenzeichen …. (Betreutes Gruppenwohnen) bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens S 51 SO 507/11, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2011 weiter zu vollziehen.
Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen.
Die Antragstellerin hat fünf Sechstel, der Antragsgegner hat ein Sechstel der Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Streitwert wird auf …..,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich mit ihrem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die (fristlose) Kündigung zwischen den Beteiligten abgeschlossener Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarungen nach § 75 Absatz 3 SGB XII für die Leistungstypen Betreutes Gruppenwohnen, Betreutes Einzelwohnen, Wohnungserlangung und Wohnungserhalt sowie Kriseneinrichtungen, hilfsweise ist ihr Begehren auf die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur rückwirkenden Verlängerung dieser Verträge und deren weiterer Vollziehung gerichtet.
Die Antragstellerin erbringt neben zuwendungsfinanzierten Leistungen und entgeltfinanzierten Leistungen im Bereich des SGB VIII unter anderem Leistungen in Form ambulanter Dienste und stationärer Einrichtungen für den von § 67 SGB XII erfassten Personenkreis. Dafür wurden auf der Grundlage des “Berliner Rahmenvertrages gemäß § 79 Absatz 1 SGB XII für Hilfe in Einrichtungen einschließlich Diensten im Bereich Soziales (BRV)„ zwischen den Beteiligten Verträge nach § 75 Absatz 3 SGB XII abgeschlossen. Ausweislich des letzten im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlichten Jahresabschlusses hat die Antragstellerin im Geschäftsjahr 2008 einen Jahresüberschuss in Höhe von …. Euro erzielt, wobei es sich um das Gesamtgeschäftsergebnis ohne Unterteilung nach den einzelnen von der Antragstellerin betriebenen Geschäftsfeldern handelt.
Für den Leistungstyp Betreutes Gruppenwohnen (BGW) nach den §§ 67, 68 SGB XII schlossen die Beteiligten zuletzt am 30. November 2010 für die Zeit vom 1. Dezember 2010 bis zum 31. Dezember 2011 zum Aktenzeichen …. eine Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung. Als vertragliche Grundlage dieser Vereinbarungen wird dabei der BRV in der ab dem 12. Oktober 2010 geltenden Fassung in Bezug genommen. Für den Leistungstyp Betreutes Einzelwohnen (BEW) nach den §§ 67, 68 SGB XII schlossen die Beteiligten zuletzt am 28. Dezember 2009 für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2010 zum Aktenzeichen …. eine Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung. Als vertragliche Grundlage dieser Vereinbarungen wird dabei der BRV in der ab dem 1. März 2007 geltenden Fassung in Bezug genommen. Zuvor hatten die Beteiligten am 15. Dezember 2009 im Rahmen einer Träger-Vereinbarung eine Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung für die ...