Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts. Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Unkenntnis des Sozialhilfeträgers vom Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G. rückwirkende Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 30 Abs 1 SGB 12 trotz fehlender gesonderter Antragstellung. Meistbegünstigungsprinzip
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Antrag auf Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB 12 kann so ausgelegt werden, dass er alle in Betracht kommenden Leistungen - also auch Mehrbedarfe nach § 30 SGB 12 - umfasst.
2. War der Leistungsberechtigte im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G und hatte lediglich die Behörde keine Kenntnis davon, so ist der Mehrbedarf nach § 30 Abs 1 SGB 12 im Rahmen des § 44 SGB 10 ohne Nachweis konkreter anderweitiger Bedarfsdeckung nachzugewähren.
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter insoweitiger Rücknahme entgegenstehender Bescheide vom 01.01.2005 bis zum 30.09.2009 einen Mehrbedarfszuschlag gemäß § 30 Abs. 1 SGB XII in Höhe von 17 % des Regelsatzes zu gewähren.
Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers hat die Beklagte dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) um die rückwirkende Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags nach § 30 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) für den Zeitraum 01.01.2005 bis 30.09.2009.
Der 1952 geborene Kläger steht unter rechtlicher Betreuung, ist dauerhaft voll erwerbsgemindert gemäß § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) und steht im Bezug von Sozialhilfeleistungen zunächst nach dem Bundessozialhilfegesetz, dann nach dem Grundsicherungsgesetz und seit dem 01.01.2005 nach dem 4. Kapitel des SGB XII von der Beklagten. In keinem der Sozialhilfeanträge begehrte er einen Mehrbedarf wegen des Merkzeichens G, das ihm mit Bescheid des Versorgungsamts F. vom 03.09.2004 seit dem 06.05.2004 zuerkannt wurde. Zudem stellte das Versorgungsamt F. dem Kläger am 03.09.2004 einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis gemäß § 69 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) aus.
Am 26.10.2009 beantragte der Kläger vertreten durch seinen Betreuer - nachdem dieser “nun auch für die Vermögenssorge zuständig„ sei - rückwirkend nach § 44 SGB X “den Mehrbedarf für das Merkzeichen G im Schwerbehindertenausweis„ bei der Beklagten und fügte den Bescheid des Versorgungsamts F. vom 03.09.2004 sowie den entsprechenden Schwerbehindertenausweis in Kopie bei. Mit Bescheid vom 27.10.2009 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil eine rückwirkende Bedarfsdeckung wie beispielsweise Pflege von Kontakten zu Dritten, Aufmerksamkeiten bei gelegentlichen Hilfeleistungen durch Dritte, zusätzliches Fahrgeld etc. nicht möglich sei. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2009 zurück. Der Mehrbedarfszuschlag gelte einen spezifischen und jeweils aktuellen Bedarf ab. Es handele sich dabei nicht um eine pauschale Leistung wie die Regelsatzleistung, sondern um die Abdeckung eines speziellen Bedarfs aufgrund der Gehbehinderung. Dass es sich dabei um einen pauschalen Satz (17 % vom Regelsatz) handele, ändere an dieser Tatsache nichts. Eine rückwirkende Anerkennung dieses Mehrbedarfs sei daher zu Recht abgelehnt worden. Darüber hinaus hätten der Beklagten keine Anhaltspunkte vorgelegen, dass ein Mehrbedarf aufgrund des Merkzeichens G vorliegen könne. Dazu seien vielmehr - trotz der bereits bestehenden Betreuung für die Gesundheitsfürsorge - keine Angaben gemacht worden. Erst am 26.10.2009 sei die Feststellung des Merkzeichens G nachgewiesen worden, worauf ab dem 01.10.2009 auch der Mehrbedarf gewährt worden sei. Denn der Mehrbedarf sei nach dem Gesetzeswortlaut erst nach Nachweis der Voraussetzungen zu gewähren. Zudem würden Grundsicherungsleistungen nur auf Antrag gewährt werden. Ein Antrag auf einen Mehrbedarf sei jedoch vor dem 26.10.2009 nie erfolgt.
Am 30.12.2009 hat der Kläger zum Sozialgericht Freiburg Klage erhoben und vorgetragen, dass bei Erlass der Bewilligungsbescheide von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden sei, nämlich davon, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Mehrbedarfszuschlag nicht vorliegen würden. Dies sei über § 44 SGB X zu korrigieren, auch wenn die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide ihre Ursache nicht in unzutreffender Rechtsanwendung der Behörde gehabt habe. Ein Antrag speziell auf Bewilligung des Mehrbedarfszuschlags sei zudem nicht konstitutiv für den Anspruch auf diesen, denn dies ließe sich nicht mit § 20 SGB X vereinbaren. Obwohl es darauf nicht ankommen würde, müsse sich die Beklagte vorhalten lassen, dass sie den Kläger nicht in Kenntnis ges...