Rz. 20
Bevor eine Krankenkasse den Versicherten zur Antragstellung nach § 51 auffordert, ist der betroffene Versicherte anzuhören (§ 24 SGB X). Diese Anhörung ist stets notwendig, wenn die bereits vorhandene Rechtsstellung des Versicherten durch eine Verwaltungsentscheidung verschlechtert wird – also, wenn Sozialleistungen entzogen werden können (z. B. Wegfall des Krankengeldanspruchs bei zu später Stellung eines Antrags auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation). Diese Anhörung ist bereits vor der Aufforderung und Fristsetzung i. S. d. § 51 notwendig; denn bei der Aufforderung und Fristsetzung handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt.
Ein ohne vorherige Anhörung und allein unter Hinweis auf die durch den MD festgestellte erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit erlassener Verwaltungsakt, mit dem die Krankenkasse auf der Grundlage von § 51 Abs. 1 Satz 1 einen Versicherten zur Stellung eines Antrags auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auffordert, ist wegen Ermessensnichtgebrauch rechtswidrig (SG Stralsund, Urteil v. 24.6.2022, S 3 KR 5/22; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 2.2.2021, L 11 KR 578/20).
Bei einer Anhörung teilt die Krankenkasse dem Versicherten mit, dass sie beabsichtigt, eine Aufforderung nach § 51 zu stellen. Dabei hat sie dem Versicherten darzulegen, auf welchen Tatsachen ihre Absicht, ihn zur Stellung eines Antrags auf Rehabilitations- bzw. Teilhabeleistungen aufzufordern, beruht. Regelmäßig wird die Krankenkasse hier auf den Inhalt des MD-Gutachtens verweisen und auf die Folgen der fehlenden bzw. nicht rechtzeitigen Antragstellung hinweisen.
Im Rahmen der Anhörung ist dem Versicherten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Auf Basis dieser vom Versicherten getätigten Äußerungen hat dann die Krankenkasse zu entscheiden, ob sie von ihrem Ermessen zur Aufforderung gebraucht macht. Sollte der Versicherte nicht auf die Anhörung reagieren, kann die Krankenkasse dennoch die beabsichtigte Aufforderung zur Antragstellung erlassen. In diesem Fall ist die Krankenkasse jedoch bei postalischer Versendung des Anhörungsschreibens für den Zugang des Anhörungsschreibens beweispflichtig.
Rz. 21
Die Anhörung ist an keine Form gebunden. Sie kann grundsätzlich schriftlich, mündlich oder sogar fernmündlich erfolgen (BSG, Urteil v. 31.3.1982, 4 RJ 21/81). Aus Beweisgründen sollte die Anhörung jedoch regelmäßig schriftlich erfolgen.
Rz. 22
Die Krankenkasse muss dem anzuhörenden Versicherten Gelegenheit geben, vor seiner Rückmeldung Auskünfte einzuholen, Beweismittel zu sammeln und sich mit den Folgen einer verspäteten Antragstellung auseinandersetzen zu können. Als Folgen kommen in Betracht:
- Möglicher Wegfall des Krankengeldes nach Ende der 10-Wochen-Frist (§ 51 Abs. 3; vgl. Rz. 30 ff.),
- Möglichkeit der Umwandlung des Rehabilitationsantrags in einen Rentenantrag bei negativer Erwerbsprognose (§ 116 Abs. 2 SGB VI),
- Einschränkung des Dispositionsrechts, was mit dem Rehabilitationsantrag bzw. mit der Umwandlung des Antrags auf eine Erwerbsminderungsrente geschehen soll; für jede Entscheidung ist die Zustimmung der Krankenkasse notwendig (vgl. Rz. 33 ff.).
Die Anhörungsfrist sollte deshalb mindestens 2 Wochen (ohne Postlaufzeiten) betragen. Wenn dem Beteiligten keine angemessene Frist zur Äußerung gegeben wird, ist das Gebot der Anhörung verletzt.
Rz. 23
Hat die Krankenkasse die vorherige Anhörung unterlassen, kann diese aufgrund § 41 Abs. 2 SGB X bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens mit der Folge nachgeholt werden, dass der Mangel geheilt wird und als nicht vorhanden gilt. Sollte der Versicherte also gegen die Aufforderung zur Antragstellung oder gegen den "Leistungseinstellungs-Bescheid" Widerspruch einlegen, kann dieser Verfahrensfehler (fehlende Anhörung) "geheilt" werden. Allerdings scheitern die meisten Verwaltungsakte an der dann noch einmal notwendigen Ausübung des Krankenkassen-Ermessens im Nachgang zur Anhörung. Das hat folgende Hintergründe:
- Fehlerhaftes oder unterbliebenes Ermessen stellt einen materiell-rechtlichen Fehler dar, der die Aufforderung zur Stellung eines Rehabilitationsantrags rechtswidrig und aufhebbar macht (vgl. § 44 SGB X). Diese Ermessensausübung muss vor der Aufforderung zur Stellung eines Rehabilitationsantrags gestellt werden und kann später – also auch im Widerspruchsfall – nicht nachgeholt werden (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 2.2.2021, L 11 KR 578/20). Die Krankenkasse muss sich bei ihrer Entscheidung von sachlichen und zweckgerechten Erwägungen leiten lassen. Weitere Einzelheiten zur Definition des Ermessens ergeben sich aus der Komm. zu § 39 SGB I.