Rz. 9a
Mit der mit Wirkung zum 1.1.2012 eingefügten Regelung wird der Inhalt des Beschlusses des BVerfG v. 6.12.2005 (1 BvR 347/98) aufgegriffen und inhaltlich als zulässige Abweichung von Abs. 1 Satz 3 über die Qualität und Wirksamkeit von Leistungen nach dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse geregelt. In der Sache handelt es sich auch um eine durch das BVerfG vorgezeichnete Abweichung von den §§ 11, 12 und 27, denn auch dort wird auf die Qualität und Wirksamkeit von Leistungen Bezug genommen. Der gerichtlich voll überprüfbare Rechtsbegriff der Wirtschaftlichkeit schließt die in den Sachvorschriften enthaltenen Begriffe der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit oder Erforderlichkeit ein (vgl. BSG, Urteil v. 29.5.1962, 6 RKa 24/59).
Rz. 9b
Hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Abweichung von Abs. 1 Satz 3 lehnt sich der Gesetzestext eng an die Entscheidung des BVerfG an und verlangt:
- eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung,
- das Fehlen einer dem medizinischen Standard allgemein anerkannten Leistung und
- eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein, damit eine Behandlung zulasten der gesetzlichen Krankenkasse erfolgen kann.
Rz. 9c
Während das Vorliegen einer lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung als Tatbestandsmerkmal unmittelbar auf dem "Nikolaus-Beschluss" des BVerfG beruht, geht das Merkmal einer "wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung" auf die Rechtsprechung des BSG zurück (vgl. Urteil v. 28.2.2008, B 1 KR 16/07 R). Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/6906 S. 53) soll für eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung zudem eine notstandsähnlichen Situation vorliegen. Dies könne der Fall sein, wenn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls droht, dass sich der tödliche Krankheitsverlauf bzw. der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorganes oder einer herausgehobenen Körperfunktion innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums wahrscheinlich verwirklichen wird. Der BGH (Beschluss v. 30.10.2013, IV ZR 307/12, NJOZ 2014, 295) spricht in diesem Zusammenhang von "lebenszerstörender" Erkrankung. Was unter einer "wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung" zu verstehen ist, ist weitgehend offen und Gegenstand einer Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen, sodass sich eine reichhaltige Kasuistik entwickelt hat. Bei Krebserkrankungen ist im Regelfall von einer lebensbedrohlichen Erkrankung auszugehen (BVerfG, Beschluss v. 26.2.2013, 1 BvR 2045/12). Vom BSG (z. B. Urteil v. 20.4.2010, B 1/3 KR 22/08 R) ist bislang eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung lediglich in den Fällen einer drohenden Erblindung angenommen worden (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 5.11.2019, L 11 KR 3947/18); hochgradige Sehstörungen reichen demgegenüber noch nicht aus (BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 1 KR 15/08 R; LSG Sachsen, Urteil v. 27.3.2018, L 9 KR 155/13, und LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 9.11.2018, L 4 KR 1540/17). Auch Multiple Sklerose (MS) ist nicht als lebensbedrohliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung angesehen worden (BSG, Urteil v. 27.3.2007, B 1 KR 17/06 R; BVerfG, Beschluss v. 26.3.2014, 1 BvR 2415/13, und LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 22.1.2020, L 5 KR 743/18; a. A. aber LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 7.3.2011, L 4 KR 48/11 B ER). Der drohende Eintritt der Unfruchtbarkeit ist keine lebensbedrohliche bzw. wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 16.6.2020, L 11 KR 2612/19). Ebenfalls einer wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung könne eine bereits bestehende beidseitige Taubheit nicht gleichgestellt werden (LSG Bayern, Urteil v. 8.10.2020, L 4 KR 656/17). Auch Schwangere können Anspruch auf nicht für die Erkrankung zugelassene Arzneimittel wegen Vorliegens einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung haben, um das ungeborene Kind vor einer Infektion und ihren Folgen zu bewahren, dies gilt jedoch nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines gesunden Kindes deutlich überwiegt (BSG, Urteil v. 24.1.2023, B 1 KR 7/22 R). Das BVerfG hat in seiner neueren Rechtsprechung (Beschluss v. 11.4.2017, 1 BvR 452/17) bekräftigt, dass eine durch nahe Lebensgefahr geprägte notstandsähnliche Lage nicht vorliegt, wenn ein verfügbares Mittel potenziell letale Komplikationen zu verhindern vermag (vgl. auch Bockholdt, NZS 2017, 569). Bei einer absolut palliativen Situation bereits zu Behandlungsbeginn soll Abs. 1a jedoch keinen Leistungsanspruch mehr begründen (LSG Bayern, Urteil v. 9.11.2017, L 4 KR 49/13; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 18.1.2018, L 16 KR 103/15, und für eine Hyperthemiebehandlung LSG Hamburg, Urteil v. 21.2.2019, L 1 KR 103/17).
Rz. 9d
Weiterhin ist für einen Leistungsanspruch nach Abs. 1a erforderlich, dass eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur V...