Rz. 2
Die Regelung knüpft an die übergreifende Zielsetzung des SGB IX an und soll integrationsorientierend wirken. Es gilt, den Belangen chronisch kranker und behinderter Menschen im Sinne von mehr Teilhabe zu entsprechen, ihnen Selbstbestimmung zu ermöglichen und die durch Behinderung bzw. chronische Krankheiten bedingten Nachteile auszugleichen (so Begründung in BT-Drs. 15/1525 S. 79).
Rz. 2a
Nach der Überschrift der Vorschrift nimmt die Regelung lediglich auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung Bezug, was aber ggf. die Leistungserbringung und das Leistungserbringungsrecht einschließt. Auf das Mitgliedschafts- oder Beitragsrecht hat die Vorschrift daher keinen Einfluss (vgl. BSG, Urteil v. 15.10.2014, B 12 KR 17/12 R).
Rz. 2b
Der Begriff des behinderten Menschen nimmt auf § 2 Abs. 1 SGB IX Bezug, wonach Menschen behindert sind, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Begriffsbestimmung der Behinderung in § 2 SGB IX wird mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) v. 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) mit Wirkung zum 1.1.2018 dahingehend neu gefasst, dass sie bei Menschen vorliegt, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können und eine Beeinträchtigung vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu erwarten ist.
Rz. 2c
Zur Begründung der Neufassung des Behinderungsbegriffs im SGB IX ist ausgeführt, dass diese Fassung dem Verständnis der UN-BRK entspricht (BR-Drs. 428/16 S. 223). Menschen mit Behinderungen haben langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Nach dem Wechselwirkungsansatz manifestiert sich die Behinderung erst durch gestörte oder nicht entwickelte Interaktion zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen Umwelt. Dabei stoßen Menschen mit Behinderungen nicht nur auf bauliche und technische Barrieren, sondern auch auf kommunikative Barrieren und andere Vorurteile. Zu den einstellungsbedingten Barrieren gehören vor allem Vorurteile oder Ängste, die Menschen mit Behinderungen beeinträchtigen. Zu den umweltbedingten Barrieren gehören vor allem bauliche Barrieren wie ein barrierefreier Zugang zum öffentlichen Personennahverkehr und zu öffentlichen und privaten Gebäuden. Z. B. werden Menschen mit Lernschwierigkeiten wegen des mangelnden Gebrauchs leichter Sprache im Alltag an der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gehindert. Die UN-BRK stützt ihr Verständnis von Behinderung wesentlich auf die ICF der WHO. Die ICF definiert in ihrem bio-psycho-sozialen Modell Behinderung ebenfalls als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Gesundheitsproblemen und den personen- und umweltbezogenen Kontextfaktoren. Der bisherige Wortlaut des § 2 SGB IX kann zwar im Sinne der UN-BRK ausgelegt werden. Zur Rechtsklarheit wird der Behinderungsbegriff durch die Inbezugnahme der Wechselwirkung zwischen der Beeinträchtigung und den Umweltfaktoren deklaratorisch an die UN-BRK angepasst. (Zum Behindertenbegriff und seinem Verständnis vgl. Komm. zu § 2 SGB IX und Kessler, SGb 2016, 373).
Rz. 2d
Der Begriff der "chronischen Erkrankung" ist nicht gesetzlich definiert. Er wird in einigen leistungsrechtlichen Vorschriften (z. B. §§ 137f, 62) aber vorausgesetzt. Nach überwiegender Auffassung und unter Übernahme der Aussagen des Gemeinsamen Bundesausschuss in der Chroniker-Richtlinie v. 22.1.2004 (BAnz. 2004 Nr. 18, 1343), zuletzt geändert am 19.6.2008 (BAnz. 2008 Nr. 124, 3017) zu § 62 SGB V (vgl. Plagemann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 2a Rz. 18, Stand: 15.6.2020; Axer, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, 2. Aufl., § 2a Rz. 5; Welti, in: Becker/Kingreen, SGB V, 8. Aufl., § 2a Rz. 17) liegt eine chronische Erkrankung vor, wenn diese wenigstens ein Jahr lang mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde. Die Beurteilung einer Krankheit als chronisch setzt jedoch nicht voraus, dass die Behandlung der Krankheit tatsächlich bereits über einen Zeitraum von einem Jahr stattgefunden hat (vgl. SG Würzburg, Urteil v. 10.3.2016, S 11 KR 427/15 zur Zuzahlungsbefreiung nach § 62 SGB V). Die Beurteilung einer Krankheit als chronisch ist auch dann möglich, wenn eine kontinuierliche medizinische Versorgung (ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, Arzneimitteltherapie, B...