Rz. 3
Die Vorschrift entspricht dem Einweisungscharakter der Regelungen des Ersten Kapitels. Sie lässt offen, ob es sich lediglich um einen Programmsatz (so Herbst, in KassKomm. SGB V, § 2a Rz. 1, Stand: 15.2.2024), um eine Auslegungsregelung (so Vossen, in: Krauskopf, SozKV, SGB V, § 2a Rz. 3, Stand: Februar 2024; Axer, in: Eichenhofer/Wenner SGB V, 2. Aufl., § 2a Rz. 3) oder "Auslegungshilfe" in Konkretisierung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (so Plagemann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 2a Rz. 12, Stand: 15.6.2020) handelt. Gegen eine zur Auslegung heranzuziehenden Vorschrift spricht, dass sie undifferenziert behinderte Menschen (eine Schwerbehinderung wird nicht vorausgesetzt) und chronisch Kranke umfasst, ohne dass zwischen diesen Personenkreisen wirklich Deckungsgleichheit besteht, auch wenn chronische Erkrankungen häufig auch als Behinderungen anzusehen sind oder zu Behinderungen führen können. Zudem ist die Vorschrift, soweit sie auf "besondere Belange" behinderter oder chronisch kranker Menschen abstellt, nicht so präzise gefasst, als dass sich daraus für die Auslegung der an Krankheit anknüpfenden konkreten Regelungen des SGB V besonderer zusätzlicher Handlungsbedarf i. S. v. "Rechnung tragen" ergäbe, der über die Auslegung der vorhandenen Leistungsvorschriften bei besonderen Bedarfssituationen hinausginge. Von der Rechtsprechung wird sie teilweise jedenfalls als Auslegungshilfe, etwa zur Konkretisierung des Qualitätsgebotes (vgl. SG Hamburg, Urteil v. 9.10.2017, S 46 KR 1744/16), genutzt, und auch das BSG sieht in ihr eine Auslegungshilfe, um das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG umzusetzen (vgl. BSG, Urteil v. 6.3.2012, B 1 KR 10/11 R).
Rz. 3a
§ 2a normiert weder eigene Rechte noch vermag er die vorhandenen Ansprüche aus der Versicherung oder nach dem SGB IX für behinderte oder chronisch kranke Menschen auszuweiten (vgl. BSG, Urteil v. 6.3.2012, B 1 KR 10/11 R; BSG, Urteil v. 15.10.2014, B 12 KR 17/12 R). Lediglich im Zusammenhang mit der Rechtsauslegung und hinsichtlich des Leistungsumfangs bei der Frage der Erforderlichkeit oder Notwendigkeit einer Leistung kann sich die Vorschrift im Einzelfall zugunsten des behinderten oder chronisch kranken Menschen auswirken (vgl. BSG, Urteil v. 24.5.2006, B 3 KR 12/05 R zur Ausstattung mit einem zweisitzigen Elektrorollstuhl). Insoweit ähnelt die Vorschrift inhaltlich § 2 Abs. 3 über die Auswahl der Leistungserbringer und den besonderen Bedürfnissen der Versicherten. Die Anwendung lediglich als Auslegungshilfe scheint auch das BVerfG mit seiner Triage-Entscheidung im Hinblick auf das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen in einer Pandemielage zu teilen, da es ausführt, dass sich aus § 2a kein Schutz in einer Triage-Situation ableiten lässt (BVerfG, Beschluss v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20).
Rz. 4
Soweit eine chronische Erkrankung oder eine Behinderung vorliegt, die bei der Leistungsgewährung oder der Gewährung von Vergünstigungen zu berücksichtigen ist, wird dies in den gesetzlichen Regelungen zumeist tatbestandlich besonders erwähnt. So z. B. in § 33 für die Gewährung von Hilfsmitteln (vgl. BSG, Urteil v. 18.6.2014, B 3 KR 8/13 R zum mittelbaren Behindertenausgleich bei Hilfsmittelversorgung) oder in § 137f für die Teilnahme an strukturierten Behandlungsprogrammen und in § 62 für verringerte Zuzahlungen durch eine eigenständige Belastungsgrenze bei chronischen Erkrankungen.
Rz. 5
In der Rechtsprechung hat die Vorschrift daher bislang kaum nennenswerte Bedeutung erlangt, weil auch bei chronisch kranken und behinderten Menschen für Krankenversicherungsansprüche eine Erkrankung erforderlich ist, nicht jedoch eine Behinderung (vgl. anhaltsweise BSG, Urteil v. 7.10.2010, B 3 KR 13/09 R, SGb 2011, 654 mit Anm. Waßer).