Der Tarifvertrag kann grundsätzlich im Rahmen seines zeitlichen Geltungsbereichs für in der Vergangenheit liegende Sachverhalte Regelungen treffen, soweit nicht das Vertrauen der Tarifunterworfenen in den Bestand der bisherigen Tarifnormen in besonderer Weise geschützt ist. Dabei gelten für Tarifverträge die für die Rückwirkung von Gesetzen maßgeblichen Grundsätze.
Ob sich ein Tarifvertrag überhaupt auf Tatbestände erstreckt, die in der Vergangenheit liegen, ist durch Auslegung der tariflichen Regelung zu ermitteln. Im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ist für diese Art von Rückwirkung eine klare und unmissverständliche Vereinbarung erforderlich, da Tarifverträge, ebenso wie Gesetze, grundsätzlich nur für die Zukunft gelten.
Grundsätzlich unzulässig ist eine echte Rückwirkung von Tarifnormen. Sie liegt dann vor, wenn die tariflichen Bestimmungen nachträglich ändernd in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen.
Echte Rückwirkung
Ein Tarifvertrag sieht eine Jubiläumszahlung i. H. v. 500 EUR für das 25-jährige Dienstjubiläum vor. Zwei Monate nach dem Jubiläum des Arbeitnehmers A am 1.7. und Auszahlung des Jubiläumsgeldes tritt ein neuer Tarifvertrag in Kraft, der rückwirkend zum 1.1. des Jahres die Jubiläumszahlung auf 300 EUR reduziert und Rückzahlungen für bereits zu viel erhaltende Jubiläumszahlungen regelt.
Lösung
Da der Tatbestand der Jubiläumszahlung für A im Juli bereits abgeschlossen war, kann von ihm keine Rückzahlung verlangt werden. Die entsprechende Tarifvertragsbestimmung ist rechtswidrig.
Dagegen ist die sogenannte unechte Rückwirkung von Tarifnormen grundsätzlich zulässig. Sie ist gegeben, wenn sich die Normen zwar unmittelbar auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte erstrecken, damit aber zugleich die betroffenen Rechtspositionen nachträglich im Ganzen entwerten. Im Rahmen einer Interessenabwägung ist dann festzustellen, ob das Vertrauen auf den Fortbestand einer bestimmten Regelung oder der mit dem Eingriff verfolgte Zweck Vorrang hat. Dabei benötigen die Tarifvertragsparteien zur Rechtfertigung einen sachlichen Grund. Die unechte Rückwirkung ist dann möglich, wenn die Normadressaten noch mit einer Änderung der Rechtspositionen rechnen mussten, etwa bei Abbau einer planwidrig eingetretenen Überversorgung oder bei allgemein bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Unternehmens. Tarifnormen über die Höhe oder Anpassung von Löhnen und Gehältern stehen grundsätzlich unter dem Vorbehalt späterer Änderungen, sie können rückwirkend geändert werden, wenn die Tarifvertragsparteien einen Vertrauensschutz in den ungeschmälerten Fortbestand der Tarifunterworfenen zerstört haben.
Ebenfalls unter einem solchen Vorbehalt stehen tarifliche Regelungen über die Unkündbarkeit von älteren oder langjährig Beschäftigten. Selbst wenn ein Arbeitnehmer die Voraussetzungen des Tarifvertrages erfüllt, muss er damit rechnen, dass diese geändert werden, also z. B. eine längere Betriebszugehörigkeit oder ein höheres Lebensalter verlangt wird.
Allerdings können die Tarifvertragsparteien bereits entstandene, fällige und abgewickelte Einzelansprüche nicht rückwirkend durch Tarifvertrag beseitigen. Dies liegt außerhalb ihrer Regelungsmacht. Ebenso wenig ist eine rückwirkende Veränderung des Geltungsbereichs eines Tarifvertrags möglich. Die Tarifvertragsparteien können insbesondere nicht durch die Schaffung von rückwirkenden Rechtsnormen den Geltungsbereich des Tarifvertrags auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber ausweiten. Bei einem Firmentarifvertrag kann sich der Arbeitgeber nicht auf eine unzulässige Rückwirkung berufen.
Die Grundsätze für die Rückwirkung finden auf rein deklaratorisch wirkende Regelungen im Tarifvertrag bzw. in seinen Übergangsvorschriften, die nur das ohnehin geltende Tarifrecht wiedergeben, keine Anwendung.
Im Nachwirkungszeitraum eines Tarifvertrags gilt das Rückwirkungsverbot nur eingeschränkt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen bei der Nachwirkung eines Tarifvertrags grundsätzlich damit rechnen, dass die Nachwirkung rückwirkend beseitigt wird, indem die Tarifvertragsparteien den ablösenden Tarifvertrag möglichst nahtlos an den Ablauf des vorherigen Tarifvertrags anschließen lassen. Insoweit steht den Tarifunterworfenen grundsätzlich kein Vertrauensschutz zur Seite.