Der Inhalt von Tarifverträgen muss nicht stets eine eigene Regelung der Tarifvertragsparteien enthalten. Es ist zulässig und entspricht der Praxis, wenn in Tarifverträgen auf andere Tarifverträge oder staatliches Recht (Gesetze, Verordnungen etc.) verwiesen wird. Zweifel an der Zulässigkeit der Verweisung auf andere Tarifverträge bestehen nur dann, wenn sie zu einer unzulässigen Delegation ihrer Regelungsmacht führt, die Tarifvertragsparteien ihre Rechtsetzungsmacht also nicht selbst wahrnehmen.
4.1 Bezugnahme auf staatliches Recht
Der Inhalt von Tarifverträgen muss nicht stets eine eigene Regelung der Tarifvertragsparteien enthalten. Wie die Inbezugnahme anderer Tarifverträge kann auch auf staatliche Regelungen verwiesen werden. Gegenstand der Bezugnahme können dabei Gesetze, Verordnungen oder Erlasse sein.
Unproblematisch können die Tarifvertragsparteien auf eine bereits bestehende und ihnen bekannte Rechtsquelle verweisen (sog. statische Verweisung). Auch eine Verweisung auf staatliches Recht in seiner jeweils geltenden Form (sog. dynamische Verweisung) ist zulässig, wenn ein enger Sachzusammenhang zwischen dem Geltungsbereich der in Bezug genommenen Rechtsquelle und dem Tarifvertrag besteht. Zulässig ist auch eine tarifliche Regelung über Auslösungsbeträge, die auf das Steuerrecht Bezug nimmt.
Problematisch ist die Abgrenzung im Einzelfall, wann die Tarifvertragsparteien eine dynamische oder lediglich eine statische Verweisung haben treffen wollen. Dies ist dann von Bedeutung, wenn sich die der Verweisung zugrundeliegende Rechtsquelle ändert. Bei einer statischen Verweisung ist eine Änderung unerheblich, da die Tarifvertragsparteien gerade die ursprünglich bestehende Regelung in der damaligen Form übernehmen wollten. Bei einer dynamischen Verweisung ändert sich mit der in Bezug genommenen Rechtsquelle auch der Tarifinhalt.
Die Fragestellung ist durch Auslegung des Tarifvertrags zu ermitteln, wobei nach den für Tarifverträge geltenden Auslegungsgrundsätzen im Wesentlichen auf den Wortlaut der tariflichen Regelung abzustellen ist. Daneben hat das BAG die nachfolgend dargestellten Auslegungsregeln entwickelt.
Im Rahmen der Auslegung ist zunächst zu klären, ob die Tarifvertragsparteien überhaupt eine eigenständige Regelung getroffen (konstitutive Regelung) haben. Das kann in den Fällen zweifelhaft sein, in denen sie eine gesetzliche Regelung wörtlich in den Text des Tarifvertrags übernommen, das Gesetz also abgeschrieben haben. Hier sind zwei Möglichkeiten denkbar. Möglich ist, dass die Tarifvertragsparteien eine bestimmte, zum Zeitpunkt des Tarifvertragsabschlusses geltende gesetzliche Bestimmung als eigenständige Regelung zum Gegenstand ihres Tarifvertrags machen wollten. Dann bleiben spätere Änderungen des Gesetzes so lange außer Betracht, wie der Tarifvertrag unverändert fortbesteht.
Die Übernahme des Gesetzestextes kann aber auch lediglich aus Gründen der Vollständigkeit erfolgt sein, etwa um den Tarifunterworfenen eine Übersicht über die Rechtslage zu geben. Dann liegt regelmäßig keine eigene tarifliche Regelung vor, sondern nur ein (rechtlich bedeutungsloser) deklaratorischer Hinweis auf die zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses geltende Gesetzeslage. In diesem Fall – also bei Fehlen einer eigenständigen Regelung der Tarifvertragsparteien – tritt die Neuregelung ohne weiteres an die Stelle der bisherigen Tarifbestimmung.
Übernahme der gesetzlichen Kündigungsfristen
So hat der 2. Senat des BAG die unveränderte Übernahme der gesetzlichen Regelungen zu den Kündigungsfristen nicht als eigenständige Regelung der Tarifvertragsparteien angesehen. Mit der gesetzlichen Neuregelung der Kündigungsfristen ist dann die gesetzliche Regelung automatisch Inhalt des Tarifvertrags geworden, obwohl der Wortlaut noch die alte gesetzliche Regelung enthielt.
Eine eigenständige Regelung liegt dann vor, wenn der Tarifvertrag eine vom Gesetz abweichende Bestimmung enthält oder auf ein Gesetz in einer genau bezeichneten Fassung Bezug nimmt. Spätere Änderungen der Gesetzeslage bleiben dann unberücksichtigt.
Formulierungsbeispiel einer eigenständigen Regelung
"Die Fortzahlung der Vergütung im Krankheitsfall richtet sich nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz in der Fassung vom 26. Mai 1994."
Nimmt der Tarifvertrag ausdrücklich auf eine gesetzliche Regelung in ihrer jeweils geltenden Fassung Bezug, so liegt eine dynamische Verweisung vor. Hier führt die Änderung der Gesetzeslage automatisch die Änderung der tariflichen Regelung herbei; eines erneuten Tarifabschlusses bedarf es nicht mehr.
Dynamische Verweisung
"Für die Fortzahlung der Vergütung im Krankheitsfall gilt das Entgeltfortzahlungsgesetz (alternativ: die gesetzlichen Bestimmungen) in der jeweils geltenden Fassung."
Verweist die tarifliche Regelung schließlich ohne weiteren Zusatz auf ein Gesetz, dürfte wohl eine dynamische Verweisung anzunehmen sein.
Im Zweifel nimmt das BAG eine bloß deklaratorische Regel...