12.1 Grundsatz
Rz. 27
§ 616 BGB ist dispositiv; er kann sowohl durch Tarifvertrag als auch durch Einzelarbeitsvertrag aufgehoben, beschränkt oder erweitert werden – dies ergibt sich im Umkehrschluss aus § 619 BGB (so bereits BAG, Urteil v. 6.12.1956, 2 AZR 192/56; vgl. auch BAG, Urteil v. 8.9.1982, 5 AZR 283/80; für den Einzelvertrag zunächst offen gelassen in BAG, Urteil v. 20.6.1979, 5 AZR 479/77, jetzt aber bejahend BAG, Urteil v. 7.2.2007, 5 AZR 270/06.
Rz. 28
In Tarifverträgen findet sich häufig ein Katalog von Freistellungssituationen einschließlich der hierfür zu gewährenden Freistellungszeit. Üblich sind teilweise tarifvertragliche Regelungen, in denen dem Arbeitnehmer z. B. bei eigener Eheschließung zwei bis drei Tage, beim Tod von Eltern oder nahen Angehörigen ein bis zwei Tage, bei der Eheschließung eines Kindes ein Tag, beim Umzug ein bis zwei Tage gewährt werden. Ob der Tarifvertrag dann jeweils eine abschließende Regelung enthält, ist immer im Wege der Auslegung zu ermitteln (vgl. für eine abschließende Aufzählung z. B. BAG, Urteil v. 7.3.1990, 5 AZR 189/89; für eine lediglich beispielhafte Aufzählung z. B. BAG, Urteil v. 27.6.1990, 5 AZR 365/89).
Enthält der Tarifvertrag einen Katalog von Fällen der Vergütungsfortzahlung und handelt es sich dabei lediglich um eine beispielhafte Aufzählung, liegt keine abschließende Regelung vor. Ist jedoch § 616 BGB durch einen abschließenden Katalog in einem Tarifvertrag abbedungen, so steht damit zugleich unwiderlegbar fest, dass in den aufgezählten Fällen eine Arbeitsverhinderung eintritt und die Vergütung fortzubezahlen ist.
1. Eine Klausel, wie: "Bezahlt wird nur die tatsächlich geleistete Arbeitszeit" gilt als vollständiger Ausschluss von § 616 BGB.
2. Im Fall einer tariflichen Regelung der Arbeitsbefreiung für die Geburt eines eigenen Kindes hat das BAG wegen der unwiderleglichen Vermutung einem in Deutschland arbeitenden spanischen Arbeitnehmer, dessen Ehefrau in Spanien das Kind zur Welt brachte, den Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung von auf Grund der Geburt ausgefallener Arbeitszeit zugestanden, obwohl er seine Frau in Spanien nicht besuchte, sondern in Deutschland blieb (BAG, Urteil v. 12.12.1973, 4 AZR 75/73).
3. Die tarifliche Klausel: "Der Lohn ist gemäß § 616 BGB in folgenden Fällen für die tatsächlich benötigte Zeit, höchstens aber für acht Stunden fortzuzahlen …" hat das BAG lediglich als beispielhafte, nicht abschließende Regelung ausgelegt.
Der Wille der Tarifvertragsparteien, die gesetzliche Regelung weitgehend außer Kraft zu setzen und auf abschließend aufgezählte Anwendungsfälle zu beschränken, komme in der tariflichen Bestimmung nicht zum Ausdruck (BAG, Urteil v. 27.6.1990, 5 AZR 365/89).
12.2 AGB-Kontrolle
Rz. 29
Fraglich ist, ob seit In-Kraft-Treten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes am 1.1.2002 ein Ausschluss des Vergütungsfortzahlungsanspruchs aus § 616 BGB durch eine einzelvertragliche Regelung weiterhin möglich ist.
Die Kontrolle der Zulässigkeit von Vereinbarungen in Formulararbeitsverträgen ist seither verstärkt in den Blick geraten. Die Inhaltskontrolle wird nach § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB für Allgemeine Geschäftsbedingungen durchgeführt. Das sind nach der gesetzlichen Definition alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die der Verwender (= der Arbeitgeber) der anderen Vertragspartei (= Arbeitnehmer) stellt. Dazu zählen im Arbeitsrecht typischerweise Formulararbeitsverträge.
Rz. 30
Da nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Arbeitnehmer ein Verbraucher im Sinne des § 13 BGB ist (BAG, Urteil v. 25.5.2005, 5 AZR 572/04), gilt nach § 310 Abs. 3 BGB, dass die Arbeitsvertragsbedingungen als vom Arbeitgeber gestellt gelten und bereits die einmalige Verwendung genügt, um sie einer inhaltlichen Kontrolle zu unterziehen, während AGB erst bei drei- bis fünfmaliger Verwendung angenommen werden. Auf die äußere Erscheinungsform kommt es dabei nicht an (§ 305 Abs. 1 Satz 2 BGB).
Rz. 31
Die Kontrolle findet nicht statt, wenn die Vertragsklauseln zwischen den Parteien im Einzelnen ausgehandelt sind. Das setzt allerdings voraus, dass der Arbeitgeber die Klauseln ernsthaft zur Disposition des Arbeitnehmers gestellt und ihm die Möglichkeit gegeben hat, diese zu beeinflussen. Das setzt zumindest voraus, dass die Klausel letztlich erst nach Diskussion mit dem Arbeitnehmer und mit seinem ausdrücklichen Einverständnis in den Vertrag aufgenommen wurde. Der Arbeitgeber muss das konkret darlegen; die Beweislast für die fehlende Einflussmöglichkeit hat aber letztlich der Arbeitnehmer (BAG, Urteil v. 25.5.2005, 5 AZR 572/04).
Rz. 32
Teilweise wird vertreten, dass die vollständige Abbedingung des § 616 BGB in Formulararbeitsverträgen nach § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam sei, sofern es hierfür nicht einen sachlichen Rechtfertigungsgrund (z. B. die b...