Rz. 276

Arbeitgeberseitige Kündigungen sind nur dann wirksam, wenn eine Prognose ergibt, dass das Arbeitsverhältnis (auch) in Zukunft störungsbelastet sein wird.

 

Rz. 277

Dieses Erfordernis ergibt sich aus einer Zusammenschau von Wortlaut und Systematik kündigungsrechtlicher Normen und insbesondere aus dem Präventivzweck arbeitgeberseitiger Kündigungen. Auch die Zukunftsbezogenheit von Kündigungen (ex-nunc-Wirkung) und die besondere zeitliche Dimension des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis stützen dieses Ergebnis. Das Prognoseprinzip bei arbeitsrechtlichen Kündigungen stellt so eine der wichtigsten Ausprägungen des allgemeinen Prognoseprinzips im vertraglichen Dauerschuldverhältnis dar.[1] Das Prognoseprinzip erfasst sämtliche Kündigungsgründe und kann sich sowohl arbeitnehmer- als auch arbeitgeberbegünstigend auswirken.

[1] Ausführlich zur Herleitung Holthusen, Das Prognoseprinzip im vertraglichen Dauerschuldverhältnis, Diss., 2023, S. 71 ff. m. zahlr. w. N.

1.5.4.1 Arbeitnehmerbegünstigende Prognosen

 

Rz. 278

Arbeitnehmerbegünstigend wirkt sich das Prognoseprinzip aus, wenn dem Arbeitgeber trotz gegenwärtiger Störungen des Arbeitsverhältnisses die Prognose abverlangt wird, dass das Arbeitsverhältnis auch in Zukunft störungsbelastet sein wird (sog. Stabilitätsprognose). So ist eine betriebsbedingte Kündigung nur dann zulässig, wenn der in Rede stehende Arbeitsplatz dauerhaft wegfällt.[1]

Die soziale Rechtfertigung einer personenbedingten Kündigung setzt voraus, dass der Arbeitnehmer auch zukünftig aus in der Person liegenden Gründen die Arbeitsleistung nicht (vollständig) wird erbringen können. Für den Hauptanwendungsfall – die krankheitsbedingte Kündigung – ist dafür zu differenzieren: In der Fallgruppe häufiger (Kurz)Erkrankungen ist im Rahmen der negativen Gesundheitsprognose zu prüfen, ob weitere Erkrankungen im bisherigen Umfang zu befürchten sind.[2] In der Fallgruppe der Langzeiterkrankungen kommt es dagegen darauf an, ob diese zu einer dauerhaften und nicht absehbaren Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit führen werden.[3]

Auch bei der verhaltensbedingten Kündigung ist zu Recht überwiegend anerkannt, dass der Arbeitgeber eine Kündigung nicht allein auf Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers in der Vergangenheit stützen kann. Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses stellt nach den Vorstellungen des Gesetzgebers keine Sanktion für ein abgeschlossenes Fehlverhalten dar.[4] Eine verhaltensbedingte Kündigung ist nach der Rechtsprechung des BAG aus diesem Grunde nur dann gerechtfertigt, wenn entweder eine Wiederholungsgefahr im Hinblick auf eine vorangegangene Pflichtverletzung besteht, oder wenn diese eine Dauerwirkung entfaltet.[5]

[1] BAG, Urteil v. 23.2.2012, 2 AZR 548/10; BAG, Urteil v. 18.5.2006, 2 AZR 412/05; näher Vannucchi, Rz. 703 ff.
[2] Zuletzt BAG, Urteil v. 24.4.2018, 2 AZR 6/18 m.w.N.
[3] BAG, Urteil v. 13.5.2015, 2 AZR 565/14.
[4] St. Rspr., siehe nur BAG, Urteil v. 26.11.2009, 2 AZR 751/08 m. w. N.; aus der Literatur statt vieler HaKo-KSchG/Pfeiffer, § 1 KSchG Rz. 173; LKB/Krause, KSchG, § 1 KSchG Rz. 162; a. A. bspw. Wank, RdA 1993, 79, 83 f.; Picker, ZfA 2005, 353, 366 f.; näher Holthusen, Das Prognoseprinzip im vertraglichen Dauerschuldverhältnis, Diss., 2023, S. 81 ff.
[5] BAG, Urteil v. 16.8.1991, 2 AZR 604/90.

1.5.4.2 Arbeitgeberbegünstigende Prognosen

 

Rz. 279

Arbeitgeberbegünstigend wirkt sich das Prognoseprinzip bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen dagegen dann aus, wenn dem Arbeitgeber die Möglichkeit eingeräumt wird, ein Arbeitsverhältnis bereits vorbeugend im Hinblick auf eine erst zukünftig eintretende Vertragsstörung zu beenden (sog. Veränderungsprognose).

Besonders häufig kommt dieser Gedanke bei der betriebsbedingten Kündigung zum Tragen: In diesem Zusammenhang besteht Einigkeit darüber, dass die zugrunde liegende unternehmerische Entscheidung erst mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem (dauerhaften, s.o.) Wegfall des Beschäftigungsbedarfs für den betroffenen Arbeitnehmer führen muss.[1] Dem Arbeitgeber wird anders gewendet nicht zugemutet, den Wegfall des Beschäftigungsbedarfs erst abzuwarten, um im Anschluss eine Kündigung mit ggf. lang andauernder Kündigungsfrist auszusprechen.[2] Dabei verlangt das BAG jedoch zusätzlich, dass die künftige Entwicklung der betrieblichen Verhältnisse im Kündigungszeitpunkt bereits greifbare Formen angenommen haben müsse.[3]

Weniger diskutiert wird die Frage der vorbeugenden Kündigung bei der personen- und der verhaltensbedingten Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Auch in diesem Zusammenhang sind jedoch Konstellationen denkbar, in denen es dem Arbeitgeber schlichtweg nicht zumutbar ist, den Eintritt einer Störung erst abzuwarten, bevor er hierauf durch den Ausspruch einer Kündigung reagiert. Steht beispielsweise aufgrund einer Verurteilung bereits fest, dass ein Arbeitnehmer in absehbarer Zeit eine länger andauernde Freiheitsstrafe antreten muss[4] oder dass er seine Arbeits- oder Berufsausübungsvoraussetzung dauerhaft verlieren wird[5], so muss dem Arbeitgeber die Möglichkeit einer vorbeugenden Kündigung eingeräumt werden....

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