Rz. 587

Wie im Rahmen jeder Kündigung ist auch bei der krankheitsbedingten Kündigung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, d. h., danach zu fragen, ob sie durch andere, mildere Mittel vermieden werden kann. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung auf einem anderem, dem Gesundheitszustand des Arbeitnehmers entsprechenden Arbeitsplatz sein. Es kann sich auch die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, wenn dadurch künftige Fehlzeiten ausgeschlossen oder signifikant verringert werden könnten.[1]

 

Rz. 588

Hierbei ist auch von Bedeutung, ob der Arbeitgeber ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) (§ 167 Abs. 2 SGB IX) durchgeführt hat. Eine Pflicht hierzu besteht dann, wenn innerhalb eines Jahres Arbeitsunfähigkeit von mehr als 6 Wochen, ununterbrochen oder wiederholt, vorliegt. Das Erfordernis eines BEM gilt für alle Arbeitnehmer und nicht nur für schwerbehinderte Menschen, denn in § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist von Beschäftigten und von schwerbehinderten Menschen die Rede. Krankheitsbedingte Kündigungen sollen bei allen Arbeitnehmern und nicht nur bei schwerbehinderten Menschen durch das BEM verhindert werden.[2] Außerdem ist ein BEM auch dann durchzuführen, wenn keine Interessenvertretung nach § 176 SGB IX existiert.[3]

Die in § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX genannte Jahresfrist ist nicht auf das Kalenderjahr beschränkt. Vielmehr ist ab Beginn des ersten maßgeblichen Arbeitsunfähigkeitszeitraums an zu rechnen. Erkrankt der Arbeitnehmer nach Abschluss eines BEM erneut arbeitsunfähig innerhalb eines Jahres für mehr als 6 Wochen, ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, erneut ein BEM durchzuführen. Diese Verpflichtung gilt auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten BEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.[4]

 

Rz. 589

Zwar ist die Durchführung eines BEM keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung, jedoch können mithilfe des BEM mildere Mittel als die Kündigung gefunden oder entwickelt werden. Deshalb ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht bereits durch eine Nichtdurchführung des BEM, sondern erst dann verletzt, wenn überhaupt Möglichkeiten zu einer Weiterbeschäftigung bestanden hätten.[5]

 

Rz. 590

Inhaltliche Anforderungen an ein BEM werden in § 167 Abs. 2 SGB IX ebenso wenig vorgegeben, wie konkrete Verfahrensschritte. Benannt werden lediglich die zu beteiligenden Personen und Stellen, wobei der Gesetzeswortlaut dem Arbeitgeber die Initiativlast auferlegt.[6] Die Nichtvorgabe konkreter Inhalte und eines formalisierten Verfahrens soll den Beteiligten weiten Spielraum zu allen vernünftigerweise in Betracht kommenden Lösungsmöglichkeiten eröffnen.[7] Die erforderliche Initiative ergreift der Arbeitgeber nur dann, wenn er den Arbeitnehmer nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des BEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hingewiesen hat.[8] Eine bloße Bezugnahme auf die Regelung des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX genügt inhaltlich nicht. Der Arbeitgeber muss verdeutlichen, dass es um die Grundlagen der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch der Arbeitnehmer Vorschläge einbringen kann.[9]

Zur Durchführung eines BEM bedarf es der Zustimmung des Arbeitnehmers. Verweigert der Arbeitnehmer die Zustimmung, nachdem ihm ein BEM ordnungsgemäß angeboten worden ist, kann von der Aussichtslosigkeit des BEM ausgegangen und von seiner Durchführung abgesehen werden. Dann ist das Unterlassen des BEM "kündigungsneutral".[10]

 

Rz. 591

Unerheblich ist, ob im Betrieb ein Betriebsrat gewählt und/oder eine Schwerbehindertenvertretung eingerichtet ist.[11] Zu beachten ist, dass ein unterlassenes BEM nicht zur Rechtsunwirksamkeit einer Kündigung führt, wenn das KSchG auf das Arbeitsverhältnis keine Anwendung findet. Außerhalb der Anwendbarkeit des KSchG ist ein BEM nicht erforderlich, weil dessen Regelungen Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind, der aus dem KSchG herrührt.[12] Dies zeigt sich auch daran, dass § 167 Abs. 2 SGB IX mit dem Erfordernis einer 6-wöchigen Arbeitsunfähigkeit an die vom BAG entwickelten Voraussetzungen der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung anknüpft.[13]

 

Rz. 592

Da der Arbeitgeber nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen trägt, die die Kündigung bedingen, wirkt sich die Nichtdurchführung eines BEM auf die Anforderungen an Darlegungs- und Beweislast aus. Der Arbeitgeber, der kein BEM durchgeführt hat, darf sich durch seine Untätigkeit keine darlegungs- und beweisrechtlichen Vorteile verschaffen.

Er darf sich nicht darauf beschränken, pauschal vorzutragen, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten für den erkrankten Arbeitnehmer, sondern muss umfassend und konkret vortragen, warum eine leidensgerechte Anpassung der Arbeitsbedingungen...

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