4.1 Allgemeine Grundsätze
Rz. 31
Bei einem Auflösungsantrag des Arbeitnehmers hat das Gericht nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG zu prüfen, ob dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist. Beim Auflösungsantrag des Arbeitgebers ist zu prüfen, ob Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. Trotz dieser unterschiedlichen Anforderungen sind verschiedene Punkte losgelöst von dem jeweiligen Prüfungsmaßstab immer zu beachten. Das BAG weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass der Ausnahmeregelung des § 9 KSchG bei der Abwägung Rechnung getragen werden muss. Die Auflösung ist an Umstände gebunden, die messbar über die bloße Unwirksamkeit hinausgehen.
4.1.1 Beurteilungszeitpunkt
Rz. 32
Maßgeblicher Beurteilungspunkt der Frage, ob dem Arbeitnehmer oder Arbeitgeber die Fortsetzung zuzumuten ist oder Gründe für eine den Betriebszwecken dienende weitere Zusammenarbeit vorliegen, ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz. Trotz der gesetzlich angeordneten Rückwirkung auf den Kündigungszeitpunkt ist der Auflösungsantrag in die Zukunft gerichtet und betrifft die künftige Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien. Als Auflösungsgründe kommen daher sowohl Gründe, die bei Ausspruch einer Kündigung bereits vorlagen, als auch später entstandene Gründe in Betracht. Letzteres ist der Normalfall.
Rz. 33
Weitergehend ergibt sich hieraus auch, dass es denkbar ist, dass mögliche Auflösungsgründe im Laufe eines Rechtsstreites ihr Gewicht wieder verlieren, weil die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände sich bis zum Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung geändert haben. So kann ein zwischenzeitlicher Wandel in den betrieblichen Verhältnissen wie z. B. ein Wechsel in der Person des Vorgesetzten Berücksichtigung finden, es sei denn, der Konflikt lässt Rückschlüsse auf das zukünftige Verhalten des Arbeitnehmers gegenüber künftigen Vorgesetzten oder Kollegen zu.
Beispiel
Der Arbeitgeber stellt einen Auflösungsantrag mit der Begründung, es bestehe zwischen dem klagenden Assistenzarzt und den weiteren Assistenzärzten aus von dem Arbeitnehmer verursachten Gründen keine weitere Möglichkeit der Zusammenarbeit. Scheiden im Laufe des Rechtsstreits alle anderen Assistenzärzte aus, muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass aus in der Person des klagenden Assistenzarztes liegenden Gründen auch mit neuen Kollegen eine den Betriebszwecken dienliche Zusammenarbeit nicht zu erwarten ist.
Rz. 34
Beim Auflösungsantrag können daher Entwicklungen während eines Rechtsstreits zur Veränderung der Rechtslage führen, ganz im Gegenteil zum Kündigungsschutzprozess selber, bei dem für die Wirksamkeit der Kündigung allein auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung abgestellt wird. Insbesondere bei länger zurückliegenden Auflösungsgründen bedarf es der Darlegung und Prüfung, inwieweit den geltend gemachten Gründen weiterhin Bedeutung für die zukünftige Zusammenarbeit zukommt.
Rz. 35
Aus der gebotenen Zukunftsprognose wird teilweise hergeleitet, dass eine Auflösung ausscheidet, wenn das Arbeitsverhältnis aus anderen Gründen nach dem Auflösungszeitpunkt, aber vor dem Auflösungsurteil endet. Dies ist nicht zwingend. Anstelle der Zukunftsprognose ist auf den Zeitraum zwischen dem Termin, zu dem die Kündigung gewirkt hätte und dem Termin der anderweitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzustellen. Es ist zu prüfen, ob zum Zeitpunkt der anderweitigen Beendigung Auflösungsgründe vorlagen.
Beispiel
Der Arbeitgeber kündigt ein bis zum 31.12. befristetes Arbeitsverhältnis zuvor ordentlich zum 31.10. Ist die ordentliche Kündigung sozial ungerechtfertigt, kann bei Vorliegen von Auflösungsgründen das Arbeitsverhältnis auch im Folgejahr rückwirkend zum 31.10. aufgelöst werden. Die Beendigung durch die Befristung kann bei der Höhe der Abfindung berücksichtigt werden. Dies gilt auch dann, wenn der spätere Beendigungstatbestand streitig ist.
Mit Entscheidung vom 23.2.2010 hat das BAG in einem Fall mit einer ungewöhnlich langen Verfahrensdauer seine Auffassung bestätigt und konkretisiert. Zu entscheiden hatte das BAG im Februar 2010 über einen Auflösungsantrag im Rahmen einer verhaltensbedingten Kündigung zum 31.12.1995. Das Arbeitsverhältnis hätte bei Unwirksamkeit der Kündigung mit Vollendung des 65. Lebensjahres am 31.3.2005 geendet. Das BAG hat bestätigt, dass die Prognose auf den Zeitraum zwischen dem Termin, zu dem die Kündigung gewirkt hätte, und dem Beendigungszeitpunkt zu erstrecken ist. Klargestellt hat das BAG, dass dies selbst die unterstützende Heranziehung von Vorfällen, die sich erst nach der anderweitigen Beendigung ereignet haben, ausschließt. Vorfälle nach dem 31.3.2005 waren daher im Rahmen des Auflösungsantrags unbeachtlich.