Stephanie Thelen, Dieter Gerhard †
Rz. 140
Aufgrund einer vom Arbeitgeber beantragten einstweiligen Verfügung im Urteilsverfahren kann dieser von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung gem. § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG entbunden werden, wenn
- die Klage des Arbeitnehmers keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint oder (Nr. 1)
- die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen würde (Nr. 2) oder
- der Widerspruch des Betriebsrats offensichtlich unbegründet war (Nr. 3).
Rz. 141
Die Klage des Arbeitnehmers hat dann keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BetrVG), wenn sie offensichtlich oder mit erheblicher Wahrscheinlichkeit abgewiesen werden wird. Die Klage ist mutwillig, wenn eine "verständige" Partei ihr Recht nicht in gleicher Weise verfolgen würde. Der Arbeitgeber hat die entsprechenden Kündigungsgründe darzulegen und glaubhaft zu machen. Das Arbeitsgericht hat das gesamte Vorbringen zu würdigen, nicht nur die Widerspruchsgründe des Betriebsrats. Haben beide Seiten hinreichende Erfolgsaussichten glaubhaft gemacht, kommt eine Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht nicht in Betracht.
Rz. 142
Eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung nach § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG kommt nur ganz ausnahmsweise und regelmäßig nur bei betriebsbedingten Kündigungen in Betracht, weil dem Arbeitgeber bei vorläufiger Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers ja auch dessen Arbeitskraft zur Verfügung steht und er ohnehin das Risiko trägt, den Kündigungsschutzprozess zu verlieren und das Entgelt nachzuzahlen. Die wirtschaftlichen Belastungen für den Arbeitgeber müssen so schwerwiegend sind, dass sie seine Existenz gefährden. Maßgebend für die Beurteilung ist das ganze Unternehmen, nicht lediglich der einzelne Betrieb.
- Kündigung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern und Wegfall jeder Beschäftigungsmöglichkeit
- Stilllegung von Betrieben oder Betriebsteilen
- drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung (§§ 17-19 InsO)
Rz. 143
Schließlich ist der Arbeitgeber auch dann von der Weiterbeschäftigung zu entbinden, wenn der Widerspruch des Betriebsrats im Zeitpunkt seiner Erhebung offensichtlich unbegründet war (§ 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BetrVG). Dies ist der Fall, wenn sich die Grundlosigkeit geradezu aufdrängt. Bei der Beurteilung ist der Zeitpunkt der Widerspruchserhebung maßgeblich, nachfolgende tatsächliche Änderungen bleiben außer Betracht.
- Rüge der mangelnden Sozialauswahl bei personen- oder verhaltensbedingter Kündigung.
- Rüge eines Verstoßes gegen Auswahlrichtlinien, obwohl solche überhaupt nicht bestehen.
- Der Arbeitsplatz, auf den der Arbeitnehmer angeblich umgesetzt werden könnte, ist bereits besetzt.
Wird ein Antrag des Arbeitgebers auf Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht rechtskräftig abgewiesen, so kann er wiederholt werden, wenn er sich auf neue Tatsachen stützt.
Rz. 144
Die Entbindungsmöglichkeit nach § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BetrVG soll entsprechend heranzuziehen sein, wenn der Widerspruch des Betriebsrats formell nicht ordnungsgemäß (z. B. ein nach Ablauf der Anhörungsfrist oder ein nicht unterschriebener Widerspruch) erhoben wurde. Dies ist grundsätzlich richtig, da der Arbeitgeber die Möglichkeit haben muss, die Frage der Weiterbeschäftigung einer materiellen gerichtlichen Entscheidung zuführen zu lassen, evtl. mit dem Hilfsantrag, dass eine Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung nicht besteht. Der Arbeitgeber braucht in diesen Fällen aber den Arbeitnehmer schlicht nicht beschäftigen; meint dieser, einen Weiterbeschäftigungsanspruch gerichtlich geltend machen zu müssen, wird dieser abgewiesen werden.
Rz. 145
Wird einem Antrag des Arbeitgebers auf Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht stattgegeben, lässt dies für die Zeit bis zur Entbindungsentscheidung angefallene Vergütungsansprüche unberührt (BAG, Urteil v. 7.3.1996, 2 AZR 432/95).