Rz. 24
Die unter § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 aufgeführte gebietsbezogene Voraussetzung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts ist dem Territorialitätsprinzip geschuldet, das grds. für das gesamte Sozialrecht leitend und in § 30 SGB I kodifiziert ist.
2.1.1 Wohnsitz
Rz. 25
Nach § 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Der Begriff der Wohnung umfasst all jene Räumlichkeiten, die sich für einen längeren Aufenthalt eignen und die Befriedigung von elementaren Lebensbedürfnissen zulassen. Von dem Beibehalten einer Wohnung kann ausgegangen werden, wenn sie auf unbestimmte Zeit unterhalten wird; werden regelmäßig die grundlegenden Bedürfnisse des Lebens in der Wohnung befriedigt, liegt ein Benutzen der Wohnung vor.
Rz. 26
Der sozialrechtliche Wohnsitzbegriff zeichnet sich durch seine Eigenständigkeit aus, er kann somit nicht mit dem bürgerlich-rechtlichen Verständnis der §§ 7 ff. BGB gleichgesetzt werden. Volljährigkeit ist zur Begründung und Aufrechterhaltung eines Wohnsitzes somit ebenso wenig Voraussetzung wie Geschäftsfähigkeit. Abzustellen ist – vergleichbar dem Steuerrecht – auf die tatsächlichen Verhältnisse, weshalb eine polizeiliche Meldung nicht ausreicht. Das Vorhandensein eines inländischen Wohnsitzes ist auch dann bei der Bewilligung von Elterngeld eigenständig zu prüfen, wenn die Familienkasse im Kindergeldverfahren das Vorliegen eines Wohnsitzes nach § 8 AO für den gleichen Zeitraum bejaht hat.
Rz. 27
Erforderlich ist ein reales Verhalten in Bezug auf einen Lebensmittelpunkt und ein entsprechender realisierbarer Wille. Demnach muss ein an "objektiven Verhältnissen zu messender realisierbarer Wille vorhanden sein, an einem bestimmten Ort zu wohnen". Nicht ausreichend ist hingegen, wenn der inländische Wohnsitz nur vorübergehend oder gelegentlich genutzt wird. Dies macht eine entsprechende Prognose erforderlich.
Ansprüche von Grenzgängern
Auch ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet können EU-Bürger als sog. Grenzgänger (vgl. Art. 1f EG (VO) 883/2004) in den Genuss von Elterngeld kommen, da Elterngeld eine Familienleistung i. S. d. Art. 3 Abs. 1j EG (VO) 883/2004 darstellt. Ein Anspruch auf Elterngeld besteht nach Art. 67 Satz 1 EG (VO) 883/2004 indes nicht nur für den Grenzgänger selbst, sondern auch für seine nicht unter den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fallenden Familienangehörigen. Dabei ist jedoch stets die ggf. zum Anspruchsausschluss führende Prioritätsregelung des Art. 68 EG (VO) 883/2004 zu beachten.
Rz. 28
Ein Wohnsitz kann an mehr als einem Ort begründet werden. Voraussetzung für einen doppelten Wohnsitz ist jedoch, dass jemand in 2 Gebieten Wohnungen unterhält und abwechselnd hier und dort lebt, wobei sich die "wirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen zu den beiden Aufenthalten" im Hinblick auf ihre Intensität nur unwesentlich unterscheiden dürfen, da andernfalls nur ein Wohnsitz (oder ein gewöhnlicher Aufenthalt) in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorliegt. Demzufolge steht ein weiterer Wohnsitz im Ausland den Anforderungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 nicht grds. im Weg, sofern eine hinreichend intensive Beziehung zum Inland vorliegt. Dies verlangt jedoch eine im Wesentlichen gleich zu gewichtende Nutzung bzw. Befriedigung der Lebensbedürfnisse. Davon wird man bei dem klassischen Fall der Entsendung von Arbeitnehmern/-innen, die sich über einen begrenzten Zeitraum mit ihren Familien ins Ausland begeben, nicht ausgehen können, auch wenn sie in Deutschland weiterhin über eine Unterkunft verfügen.
Kein Wohnsitz in Deutschland
Die am 20.7.1995 geborene M ist Mutter der im November 2021 geborenen T. Der Vater V der T arbeitet im Ausland, ohne die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 zu erfüllen. M hält sich vor, während und nach der Geburt bei V im Ausland auf und beantragt im Januar 2022 Elterngeld. Sie gibt wahrheitsgemäß an, in Deutschland im Haus ihrer Eltern über eine eigene Wohnung zu verfügen und dort auch polizeilich gemeldet zu sein. Die Wohnung suche sie regelmäßig auf. Anfang Dezember 2021 sei sie für eine Woche in Deutschland gewesen, um einen Pass für T zu beantragen. Auch nach Weihnachten habe sie sich dort aufgehalten und sei erst kurz vor dem Jahreswechsel wieder zu V zurückgekehrt. Im Klageverfahren trägt sie ergänzend vor, im Mai 2022 mit V 3 Wochen in ihrer Wohnung in Deutschland verbracht zu haben, alleine sei sie etwa vom 5. bis 18.7.2022 dort gewesen. Weitere Aufenthalte in der Wohnung in Deutschland seien geplant. Hat M einen Anspruch auf Elterngeld?
Lösung
Hier kommt es entscheidend darauf an, ob M (auch) in Deutschland einen Wohnsitz hat. Die polizeiliche Meldung reicht alleine nicht aus. Es ist auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen. Dabei fällt auf, dass das Verweilen der T in Deutschland Anfang Dezember anlassbezogen war (Ausstellung eines Passes) und sie Weihnachte...