LfSt Bayern v. 5.8.2013, S 622.1.1 - 20/3 St 42
1. Allgemeines
Ist die Steuer nicht vorläufig nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 oder Nr. 4 AO festgesetzt, tritt insoweit „Zwangsruhe” kraft Gesetzes ein, wenn ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht (insbesondere BFH) wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer (anderen) Rechtsfrage anhängig ist und der Einspruch hierauf gestützt wird. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) werden von der Vorschrift des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO nicht erfasst.
Der Umstand allein, dass ein Musterverfahren im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO anhängig ist, reicht nicht zum Eintritt der Zwangsruhe aus. Der Steuerpflichtige muss nicht nur Einspruch eingelegt, er muss seinen Einspruch auch auf das anhängige Musterverfahren gestützt haben (AEAO zu § 363 Nr. 2).
Wird festgestellt, dass in einer größeren Zahl von Fällen Einsprüche wegen eines Musterverfahrens eingelegt wurden, ist dies dem AO-Referat des BayLfSt anzuzeigen.
2. Überprüfung, ob Zwangsruhe eingetreten ist
Zur Prüfung der Frage, ob die anhängige Rechtsfrage für das Einspruchsverfahren von Bedeutung sein kann, muss der Einspruchsführer die strittige Rechtsfrage (wenn möglich unter Angabe von Gericht und Aktenzeichen) benennen.
Die Überprüfung, ob tatsächlich ein Musterverfahren im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO anhängig ist, sollte regelmäßig im Rahmen der Erfassung des Einspruchs in DB-Rb durchgeführt werden. Auf der Registerkarte „Ruhen” sind im Bereich Musterverfahren (wird in Kürze in „Rechtsfragen BFH/BVerfG” umbenannt) sämtliche für die Finanzämter relevanten anhängigen Rechtsfragen zu Revisionsverfahren (BFH) bzw. zu Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollverfahren (BVerfG) einsehbar und können als Ruhensgrund zum jeweiligen Rechtsbehelf in DB-Rb erfasst werden. Wurde die Rechtsfrage als Massenruhensgrund (vgl. die Übersicht über die ruhenden Massenrechtsbehelfe, AIS: AO/Vorläufigkeit) eingestuft, ist der Ruhensgrund in DB-Rb in der Auswahlliste „Massenverfahren” erfasst. Anhängige Rechtsfragen vor dem EuGH werden in DB-Rb nicht unterstützt. Beruft sich ein Einspruchsführer auf ein in DB-Rb nicht auswählbares Musterverfahren, ist der Ruhensgrund auf der Registerkarte „Ruhen/Massenverfahren” (wird in Kürze in „Ruhensmanagement” umbenannt) bei den „freien Ruhensgründen” zu erfassen. Die Liste der in DB-Rb zur Auswahl bereitgestellten Rechtsfragen wird grundsätzlich 14-tägig aktualisiert.
Lässt sich anhand der in DB-Rb enthaltenen Liste der anhängigen Rechtsfragen (noch) nicht feststellen, dass das vom Einspruchsführer angeführte Musterverfahren im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO tatsächlich anhängig ist, kann zur Überprüfung eine Abfrage in „juris” vorgenommen werden. Ggf. ist vom Einspruchsführer ein Nachweis über die Anhängigkeit (z.B. Benennung der Fundstelle in der Fachliteratur) zu verlangen.
3. Umfang der Zwangsruhe und Speicherung in DB-Rb
Die Zwangsruhe umfasst nicht den gesamten Einspruch, sondern lediglich die Punkte, für die die Voraussetzungen der Verfahrensruhe erfüllt sind (vgl. AEAO zu § 363 Nr. 3). Soweit mindestens ein Ruhensgrund vorliegt (nach § 363 Abs. 2 Satz 1 und/oder Satz 2 AO), ist der Fall in DB-Rb mit dem Status „Ruhen des Verfahrens” zu speichern.
4. Erteilung von Teil-Abhilfebescheiden und Teil-Einspruchsentscheidungen
Umfasst die Verfahrensruhe nicht den gesamten Einspruch (vgl. Tz 3), ist der Einspruch hinsichtlich der Punkte, die nicht zum Ruhen geführt haben, weiter zu bearbeiten und diesbezüglich ein Teil-Abhilfebescheid oder nach entsprechender Ermessensausübung eine Teil-Einspruchsentscheidung (vgl. AEAO zu § 367 Nr. 6.1 und Nr. 6.2) zu erteilen. Gegen die Teil-Einspruchsentscheidung ist zur Weiterverfolgung des Rechtsbehelfs bezüglich des entschiedenen Teils Klage einzulegen; der Teil-Abhilfebescheid wird zum Gegenstand des ruhenden Einspruchsverfahrens (§ 365 Abs. 3 AO).
Während der laufenden Klagefrist gestellte Anträge nach § 172 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AO auf Änderung der Teil-Einspruchsentscheidung zur Berücksichtigung von weiteren Ruhensgründen sind als unzulässig abzulehnen. Durch eine Einspruchsentscheidung kann zwar ein Steuerbescheid aufgehoben oder geändert werden; die Einspruchsentscheidung (auch eine Teil-Einspruchsentscheidung) ist aber selbst kein Steuerbescheid (und auch kein einem Steuerbescheid gleichgestellter Verwaltungsakt). Die Sätze 2 und 3 in § 172 Abs. 1 AO ermöglichen die Korrektur eines Steuerbescheids, der Gegenstand eines Rechtsbehelfsverfahrens war oder ist, nicht aber eine (isolierte) Aufhebung/Änderung/Ergänzung einer Einspruchsentscheidung.
Soweit im Veranlagungsbereich bereits bei Einspruchseinlegung der Antrag auf Ruhen des Verfahrens gestellt wird, ist die Überprüfung, ob ein Teil-Abhilfebescheid erlassen werden kann, noch von der Veranlagungsstelle vorzunehmen. Nach Erlass des Teil-Abhilfebescheids ist der Einspruch an di...