Agile Organisationsstruktur: warum, wofür, wie viel?
Ein Unternehmen gilt als agil, wenn es die Fähigkeit hat, in Situationen des Wandels und der Unsicherheit initiativ, flexibel, aktiv und anpassungsfähig zu agieren. Agilität kann für Unternehmen zu einem entscheidenden Kriterium für Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerbsvorteile werden, wenn es schneller, gezielter und effektiver als die Konkurrenz auf veränderte Rahmenbedingungen reagiert. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass sich viele Branchen und Industrien in einem tief greifenden Wandel befinden oder dieser für sie prognostiziert wird. Ein Wandel, der heute insbesondere auf zwei maßgebliche Treiber zurückgeführt wird: Die Digitalisierung von Produkten und Prozessen sowie eine veränderte Erwartungshaltung auf der Kundenseite, mit der Forderung nach mehr Kundenorientierung und mehr Convenience.
Warum, wofür und wie viel Agilität braucht ein agile Organisationsstruktur?
Aus vielen Beratungsprojekten wissen wir, Unternehmen haben die Notwendigkeit für mehr Agilität im Unternehmen erkannt, und dennoch scheitern viele bei der Erlangung dieser. Dieses Scheitern lässt sich erklären. Agilität ist nicht monokausal. Es gilt, eine Vielzahl von Werkzeugen und Elementen so aufeinander abzustimmen, dass ein gewünschtes und benötigtes Maß an Agilität entsteht. Es ist wie bei einem Orchester, es gilt jedes Instrument, jedes Orchestermitglied so aufeinander abzustimmen, dass ein Wohlklang entsteht.
Der Weg zu mehr Agilität bricht zudem häufig mit tradierten Organisationsmustern, er muss Widerstände im Unternehmen überwinden und nur ein holistisch angelegter Veränderungsprozess liefert das erstrebte Ergebnis. Die Erfahrung zeigt, auf dem erfolgreichen Weg zum richtigen Maß an Agilität gilt es für Unternehmen drei zentrale Fragen zu beantworten: Agilität – warum, wofür, wie viel?
Warum agile Organisationsstruktur
Unternehmen benötigen Agilität, um auf Veränderung zu reagieren. Je schneller, umfassender und tiefgreifender sich ein Umfeld verändert, umso wichtiger wird Agilität als entscheidendes Wettbewerbskriterium. Wir wissen aus den Erfahrungen des Change Managements, dass Organisationen und folglich die Mitarbeiter einer Organisation den Wandel nur dann akzeptieren und ihn proaktiv unterstützen und gestalten, wenn sie die Gründe und die Notwendigkeiten für den Wandel kennen und verstehen.
Es gilt für ein Unternehmen auf dem Weg zu mehr Agilität zuvorderst vorausschauend zu bestimmen, ob und mit welcher Intensität sich das Umfeld verändern wird und welche Konsequenzen die Veränderung auf den Status quo des Hier und Jetzt ausüben wird. Es ist zu definieren, warum eine Organisation Agilität benötigt.
Zur Analyse des Unternehmensumfelds und zur Bestimmung der Veränderungsnotwendigkeit für Unternehmen existieren viele Instrumente und Werkzeuge, die ihren Ursprung überwiegend im Methodenkasten des strategischen Managements haben. Ein einfaches und doch zweckmäßiges Instrument ist die Bestimmung nach VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity). Exemplarisch sei das Modell für ein Unternehmen der Automobilindustrie in Grundzügen durchgespielt:
- Die Volatilität in der Automobilindustrie ist aktuell hoch. Gesetzesgrundlagen, zum Beispiel zu Abgaswerten, ändern sich ständig und Kundenpräferenzen, zum Beispiel beim Antrieb, schwanken stark.
- Die Automobilindustrie durchläuft zudem eine Phase der Unsicherheit. Welche Antriebstechnologie sich in den kommenden Jahren durchsetzen wird, steht in den Sternen. Ob Kunden auch zukünftig eigene Pkw besitzen, ist ebenso unsicher wie die Aussage zu möglichen Mobilitätsanbietern, zum Beispiel aus China oder dem Silicon Valley, als zukünftigen Wettbewerbern.
- Zudem wird die Industrie von einer zunehmenden Komplexität geprägt. War ein Auto früher ein vorrangig mechanisches Produkt, gleicht es heute eher einem Computer auf Rädern. Es gilt Software, Sensoren, Mobilfunk und andere Technologien sinnvoll miteinander zu verbinden.
- Zu guter Letzt ist insbesondere beim Kunden ein hohes Maß an Ambiguität zu verorten. Viele Kunden geben sich in Sonntagsreden gerne als umweltbewusst und umweltschonend aus, um dann im innerstädtischen Verkehr die Kinder im Drei-Tonnen-SUV zur Schule zu fahren.
Je signifikanter das VUCA-Urteil für eine Industrie, für ein Unternehmen, ausfällt, desto stärker werden etablierte Geschäftsmodelle der Gefahr der Substitution oder zumindest der tief greifenden Veränderung unterworfen. Um diesen vorhersehbaren Wandel aktiv mitzugestalten, benötigen Unternehmen ein adäquates Maß an Agilität.
Eine sinnvolle Ergänzung zur VUCA-Analyse stellt das Business Model Canvas nach Osterwalder und Pigneur dar. Es gliedert sich in neun zu betrachtende, interdependente Bausteine auf. Ausgearbeitet liefert Canvas ein ganzheitliches Bild des aktuellen Geschäftsmodells eines Unternehmens. Ergänzt um eine Analyse, die den Veränderungsdruck für das Geschäftsmodell definiert, lässt sich ein Zukunftsmodell anschaulich bestimmen. Als Faustregel gilt, je stärker der Status quo des Geschäftsmodells vom zu erwartenden, zukünftigen Geschäftsmodell abweicht, umso größer ist die Notwendigkeit für mehr Agilität.
VUCA-Analyse und Geschäftsmodellanalyse sind zusammengenommen eine ideale Grundlage, um im Unternehmen, bei den Mitarbeitern, ein notwendiges Verständnis für das Warum auf dem Weg zu mehr Agilität zu erzeugen.
Wofür agile Organisationsstruktur
Hat ein Unternehmen im Rahmen der Umfeldanalyse erkannt, dass es sich in einem von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägten Industrieumfeld bewegt und weicht das bestehende Geschäftsmodell stark von dem zukünftigen, zu erwartenden Geschäftsmodell ab, so steht ein Unternehmen vor der unabdingbaren Aufgabe des Wandels, der Transformation. Für den Transformationsprozess benötigt ein Unternehmen Agilität. Agilität ist jedoch nicht eindimensional. Agilität hat viele Facetten und Themengebiete. Die Festlegung wofür, für welchen Zweck, ein Unternehmen Agilität benötigt, überfordert viele, ist jedoch zentral wichtig.
Erkennt ein Unternehmen, dass es viele virulente und ungelöste Kundenprobleme gibt und dass das zukünftige Geschäftsmodell ein auf Innovationen basierendes, signifikant differentes Nutzenversprechen beinhalten muss, so kann dieses Unternehmen definieren, dass Agilität zu einem Mehr an Innovationen, vielleicht sogar disruptiven Innovationen, führen soll. Das Unternehmen wird, ausgestattet mit der entsprechenden Agilität, zu einem Treiber der Veränderung.
Ein Unternehmen kann aber auch in der Situation sein, dass zunehmend digitalisierte und automatisierte Prozesse in den Wertschöpfungsketten der Wettbewerber Kostennachteile im eigenen Unternehmen entstehen lassen. Das Unternehmen kann definieren, dass Agilität zu einem schnelleren Aufschließen zur Konkurrenz beitragen soll.
In der Praxis hat sich – unabhängig von der Zielstellung, die mit Agilität verbunden wird – die Gestaltung eines Bezugsrahmens als hilfreiches Instrument erwiesen. Instrumente und Methoden im agilen Management lassen sich in einem Bezugsrahmen zwischen vier Extrapolationen eingliedern: Strategie, Organisation, Führung und Markt/Kunde. Die verschiedenen agilen Elemente und Methoden, wie Design Thinking, Empowerment von Mitarbeitern oder Cross-Funktionalität in Arbeitsstrukturen lassen sich innerhalb dieses Bezugsrahmens verorten. Sie zahlen unterschiedlich stark auf die vier Bezugswerte ein. Dabei sind sie interdependent und nur bei ganzheitlicher Berücksichtigung wirksam. Mithilfe der Definition des Bezugsrahmens kann ein Unternehmen individuell bestimmen, welche Methoden und Instrumente im Agilitätskanon relevant sind.
In einem zweiten Schritt gilt es, ein Soll für jedes dieser Elemente festzulegen: In welchem Ausmaß wollen und/oder müssen wir die Design-Thinking-Methode in unsere Organisation integrieren? Wie viel Empowerment benötigen unsere Mitarbeiter, was sollen und dürfen sie künftig selbst bestimmen und entscheiden? Wie viele Mitarbeiter sollen in crossfunktionalen Teamstrukturen arbeiten?
In einem dritten Schritt ist festzustellen, welchen Status quo das Unternehmen in den einzelnen Dimensionen des Bezugsrahmens bereits erreicht hat: Wird Design Thinking als Methode schon eingesetzt und sind die relevanten Mitarbeiter fachlich geschult und sicher in der Exekution der Methode? Arbeiten die Mitarbeiter hinreichend bevollmächtigt, können und dürfen sie sich schon selbst bis zu einem angestrebten Grad steuern? Arbeiten ausreichend viele Mitarbeiter in crossfunktionalen Strukturen, sind die organisatorischen Rahmenbedingungen für zusätzliche Crossfunktionalität gegeben?
Der holistisch angelegte Bezugsrahmen verdeutlicht allen Beteiligten die Dimensionen auf dem Weg zur notwendigen Agilität und er gibt zudem Auskunft über festgestellte Defizitbereiche.
Wie viel agile Organisationsstruktur
Industrien durchlaufen Entwicklungszyklen; auf starke Veränderung folgt regelmäßig Konstanz. Agilität ist insbesondere in Zeiten der Veränderung notwendig. Und selbst in Zeiten der Veränderung benötigt wohl nicht jeder Unternehmensbereich und nicht jeder Mitarbeiter das gleiche Maß an Agilität.
Eingangs wurde die Automobilindustrie exemplarisch für die Anwendung der VUCA-Methode betrachtet – eine Industrie, die sich aktuell in hohem Maße verändert und wohl in noch höherem Maß verändern wird. Nichtsdestotrotz gilt für viele Bereiche der Industrie ein Maß der Konstanz. Muss der Bandmitarbeiter in der Fertigung agil sein? Muss der Bandmitarbeiter in Design-Thinking-Prozesse integriert werden, Kundenprobleme erkennen können und iterativen Prozessschritten folgend Prototypen entwickeln können, die in kurzer Folge am Kunden getestet werden? Wohl eher nicht.
Signifikant anders gestaltet sich die Situation für die Bereiche Forschung und Entwicklung, Projektmanagement, Marketing oder Vertrieb. Hier müssen die Mitarbeiter zum Beispiel neue Mobilitätskonzepte und Mobilitätsdienstleistungen erdenken und prüfen. Es gilt, disziplinübergreifend neue Technologien zusammenzuführen und schnell marktreif zu gestalten und auf Kundenakzeptanz zu prüfen. Das sind Aufgaben und Herausforderungen, die ein hohes Maß an Agilität einfordern.
Es wird deutlich, dass Unternehmen, vielleicht mit Ausnahme von Start-ups, immer beides benötigen: eine Organisation für Konstanz, mit klaren Prozessstrukturen, Hierarchien und Entscheidungswegen, und eine Organisation für Agilität, mit interdisziplinären Teamstrukturen, Design-Thinking-Projektorganisationen und Risikobereitschaft. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von dualen Betriebssystemen.
Mahnend sei hier das Beispiel eines mittelständischen IT-Dienstleisters genannt. Das Unternehmen entschied sich für den völligen Transfer zu einem agilen Unternehmen – nur um zwei Jahre später weitreichende Unternehmensbereiche und viele Mitarbeiter wieder in tradierte Organisationsformen und Prozessabläufe zurückzuführen. Entscheidender Grund war, dass im etablierten, wiederkehrenden Geschäft keine hinreichende Qualität und Zuverlässigkeit mehr gewährleistet werden konnte.
Bei der Festlegung „wie viel Agilität?“ geht es darum zu definieren, wer, welche Bereiche, welche Mitarbeiter in welchem Maß in agilen Arbeitsformen, mit agilen Methoden arbeiten sollen und welche explizit nicht. Gut gestaltet, lässt die Organisation in duale Betriebssysteme einen Austausch zwischen den Betriebssystemen zu. In Abhängigkeit des aktuellen und/oder prophezeiten Wandels können Mitarbeiter in beiden Betriebssystemen eingesetzt werden.
Die klare Regelung, wer welche Organisationsbereiche und welche Mitarbeiter zukünftig in agilen Arbeitsformen tätig sind, schafft für alle Mitarbeiter in der Organisation die nötige und ausreichende Sicherheit und Klarheit. Zusammengenommen ergibt der Dreiklang aus Warum, Wofür und Wieviel die Grundlage für die erfolgreiche Transformation zu einer Organisation mit dem immer notwendigen Maß der Agilität.
Der vollständige Beitrag ist im Personalmagazin, Ausgabe 02/2019, erschienen. Darin sind auch einige Praxisbeispiele enthalten.
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