Der Elite auf der Spur


Kolumne Personalentwicklung: Der Elite auf der Spur

Der Begriff "Talent" ist aus der Personalentwicklung nicht mehr wegzudenken. Aber was unterscheidet den Talent-Begriff eigentlich von dem soziologischen Begriff "Elite"? Kolumnist Oliver Maassen geht diesmal der Frage nach, was Elite eigentlich ist und wie viel Elite ein Unternehmen braucht.

Fragt man Wikipedia nach "Elite", so findet sich Folgendes: "Elite (ursprünglich vom lateinischen 'eligere' beziehungsweise 'exlegere,' 'auslesen') bezeichnet soziologisch eine Gruppierung überdurchschnittlich qualifizierter Personen oder die herrschenden beziehungsweise einflussreichen Kreise einer Gesellschaft. Konkret bezieht sich der Begriff meist auf näher definierte Personenkreise, wie zum Beispiel die Positionselite oder die Bildungselite. Der Elite gegenüber stehen die 'Masse' oder der 'Durchschnitt' ('Normalbürger').

Deutliche Unterschiede zum Talent-Begriff

Im Unternehmenskontext würde man das Gegenteil von "Elite" statt "Masse" rücksichtsvoller als "die Mitarbeiterschaft" bezeichnen. Und der Begriff "Elite" wird hier oft mit "Talent" gleichgesetzt, obwohl deutliche Unterschiede bestehen können.

Die Personalentwicklung versteht unter "Elite" klassischerweise eine Gruppe im Unternehmen, die aufgrund bestimmter Kriterien als besonders und als besonders förderungswürdig erachtet wird. Damit wird eine meist eher kleine Gruppe herausgehoben und erhält auch in Bezug auf ihre Entwicklung einen besonderen Fokus.

"Talent ist überall, wir müssen es nur entdecken"

Brauchen wir im Unternehmen überhaupt eine Elite oder ist die Idee nur ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Personalentwickler? Im Sinne Wikis "überdurchschnittlich qualifizierter Personen" ist die Förderung derselben sicher ein erstrebenswertes Konzept. Auf der anderen Seite haben wir in der HR Alliance vor einigen Jahren in einem Thesenpapier geschrieben: "Talent ist überall, wir müssen es nur entdecken."

Ein Widerspruch zur Elitenbildung? Aus meiner Sicht ist es wohl eher eine sinnvolle Ergänzung. Wenn Unternehmen einen ganzheitlichen Talentbegriff entwickeln und sich auf die Förderung der individuellen Kompetenzen jedes einzelnen Mitarbeiters konzentrieren, dann entsteht ein Lern- und Veränderungsklima, auf dessen Boden Eliten gut gedeihen und wachsen können.

Elite ist immer unter kritischem Beschuss

Es bleibt dann der unter Personalentwicklern teils erbittert geführte Richtungsstreit darüber, ob Elite besser institutionalisiert wird, also als Gruppe, wenn auch oft auf Zeit, herausgehoben wird – oder ob Elite besser individualisiert wird, also dass ein Einzelner eine besondere Förderung erhält, was eher dem oben beschriebenen "Talent ist überall" entspricht.

Zu jeder Zeit und in jedem gesellschaftlichen Kontext gab und gibt es Eliten in den Unternehmen. Diese Gruppen haben wesentlichen – zumeist guten – Einfluss auf die Entwicklung ihrer jeweiligen Systeme genommen. Gleichzeitig waren sie immer schon auch unter kritischem Beschuss ihrer Gegner – häufig Menschen, die nicht zu dieser Elite gehörten oder sich bewusst von ihr distanziert haben. Jene Elite-Aussteiger haben dann häufig in ihrer kritischen Reflexion auf die Elite selber zu größeren Veränderungen beigetragen.

Aus Angst nicht die besten Talente nominiert

Die Personalentwicklung in Unternehmen hat über viele Jahrzehnte einen nahezu unveränderten Blick auf Elite gehabt, indem sie versucht hat, deren Entstehung und Entwicklung zu initialisieren und zu begleiten. Talent Management hat von Nachwuchszirkeln bis zum CEO-Club alle nur denkbaren Formen von Eliteprogrammen entwickelt.

Der oft doch beschränkte Erfolg dieser Anstrengungen hat mehrere Gründe: In vielen Unternehmen werden nicht die Besten nominiert, weil Führungskräfte fürchten, dass Ihre Top-Talente durch solche Programme neue Häfen im Unternehmen suchen. Eine berechtigte Sorge, weil ja gerade diese Entwicklung aus Personalentwicklungssicht zumeist gewollt ist. In einem eingeschwungenen Zustand sollte sich das Geben und Nehmen aus Sicht der einzelnen Führungskraft aber wieder ausgleichen.

Talentprogramme mit hoher "Drop-out"-Rate

Der zweite Grund, warum Elite-Programme oft scheitern, ist die "Drop-out"-Rate. Damit ist zum einen gemeint, wie viele der Mitarbeiter im Programm das Unternehmen während und insbesondere in den ersten Jahren nach der Maßnahme verlassen. Viele Kollegen berichten mir von bis zu 20 Prozent, bei durchschnittlichen Fluktuationsraten im Management von drei bis fünf Prozent.

Das ist dann ein echtes Alarmzeichen und deutet meistens darauf hin, dass ein solches Eliteprogramm nicht richtig in die Personalentwicklungsaktivitäten des Unternehmens eingebunden ist, oder dass die Unternehmenskultur mit diesen Talentprogrammen schlichtweg überfordert ist.

Niemand kümmert sich um die, die auf der Strecke bleiben

Der andere Aspekt der "Drop-out"-Rate bezieht sich auf die Mitarbeiter, die nicht verstehen, warum sie sich nicht auch in einem Elite-Pool wiederfinden. Ich bin immer wieder schockiert zu sehen, wie viele Unternehmen stolz sind auf viele interne Bewerbungen für ihre Talentprogramme, sich dann aber überhaupt nicht um diejenigen kümmern, die im Auswahlprozess auf der Strecke bleiben.

Dieses Phänomen wäre ein spannendes Feld für empirische Untersuchungen. Nach meinen subjektiven Beobachtungen verlässt jeder zweite in den kommenden zwei Jahren das Unternehmen und sucht sich ein neues Betätigungsfeld.

Gefahr: Realitätsverlust im Elitenzirkel

Ein drittes Risiko der Elitenbildung ist der selbstreferenzielle Machtanspruch von Eliten, der in der gesellschaftlichen Wahrnehmung aktuell wieder besonders negativ zu Buche schlägt. Die Gefahr das Mitglieder einer Unternehmenselite – und das trifft besonders häufig auf das Leitungsgremium zu – sich zu entkoppeln von der Basis der Führungskräfte und Mitarbeiter und ihre eigene Wirklichkeit des Unternehmens zu leben, ist hoch.

Der Verlust der kritischen Auseinandersetzung mit der Realität wird von Kritikern der Elitenbildung denn auch immer wieder als ein wesentliches Argument angeführt. Und wenn man sich die Schlagzeilen der letzten Jahre über unsere Wirtschaftselite ansieht, wird man das Gefühl nicht los, dass Gegensteuerung hier nicht stattfindet. Durch wen auch, sind doch auch die vermeintlichen Aufseher selbst Teil des Systems.

Homo Authenticus löst den Homo Oeconomicus ab

Enden möchte ich ausnahmsweise mal mit einer Literaturempfehlung. Es ist zwar ein kleines Buch, das Benedikt Herles da geschrieben hat, aber doch ein wichtiges. Klein, weil nach knapp 180 Seiten schon alles über "Die kaputte Elite" gesagt zu sein scheint und klein auch, weil dem Autor das Schreiben nicht wirklich in die Wiege gelegt wurde.

Und wichtig ist es, denn: "Am Ende liefert Herles dann noch seine Vision von einer neuen Welt, einer Welt, in der Wirtschaft radikal neu erfunden wurde", wie der Ex-Porsche-Chef Wendelin Wiedeking im Klappentext schreibt. Herles' Vision: "Der Homo Oeconomicus hat abgedankt, sein Bruder der Homo Authenticus übernimmt das Regiment. Ihn beschreibt Herles mit Ecken und Kanten, der irrt, durchaus gierig ist und Angst hat – ein wirklicher Mensch also. Den 'Shareholder Value' hat der 'Employee Customer Value' abgelöst – das ist die wohl tröstlichste Botschaft von Herles' Vision. Doch die Erklärung, warum Aktionäre von morgen auf Rendite zugunsten zufriedener Mitarbeiter und Kunden verzichten sollten, bleibt der Autor leider schuldig. Und man fragt sich warum der Autor nicht an seine eigene Vision glaubt. Vielleicht weil er ahnt, dass sein Buch von den falschen Personen gelesen wird."

Kolumnist Oliver Maassen

Oliver Maassen ist seit 2013 Geschäftsführer der  Pawlik Consultants GmbH. Zuvor war er unter anderem Bereichsvorstand und Personalchef der Unicredit Bank. In seinen früheren Funktionen verantwortete er die Bereiche Personal- und Organisationsentwicklung, Führungstrainings, Personalmarketing und Talent Management. Er ist Gründungsvorstand der Zukunftsallianz Arbeit und Gesellschaft (ZAAG).