Prof. Dr. jur. Tobias Huep
Strafrechtliche Anzeigepflichten bestehen nur nach § 138 StGB bei der Nichtanzeige geplanter Straftaten. Diese gesetzliche Pflicht zur Anzeigeerstattung durch den Arbeitnehmer schließt automatisch das Vorliegen eines Arbeitsvertragsverstoßes bzw. eines Kündigungsgrundes aus.
Sonstige Anzeigen gegen den Arbeitgeber sind ebenfalls kein arbeitsvertraglicher Pflichtverstoß, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber vorher unterrichtet und dieser nicht in angemessener Zeit Abhilfe schafft. Der Arbeitnehmer ist allerdings verpflichtet, keine haltlosen oder übereilten Beschuldigungen zu erheben und keine sachfremden Ziele zu verfolgen.
Zukünftig wird sich die Rechtsprechung (auch) an den Wertungen und Vorgaben des ab dem 2.7.2023 geltenden "Hinweisgeberschutzgesetz" orientieren.
Die Erstattung einer Strafanzeige durch einen Arbeitnehmer wegen eines vermeintlich strafbaren Verhaltens des Arbeitgebers oder seiner Repräsentanten stellt als Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte – soweit nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden – im Regelfall keine eine Kündigung rechtfertigende Pflichtverletzung dar. Dies kann anders zu beurteilen sein, wenn trotz richtiger Darstellung des angezeigten objektiven Sachverhalts für das Vorliegen der nach dem Straftatbestand erforderlichen Absicht keine Anhaltspunkte bestehen und die Strafanzeige sich deshalb als leichtfertig und unangemessen erweist.
Strafanzeigen von Arbeitnehmern gegen ihren Arbeitgeber mit dem Ziel, Missstände in ihren Unternehmen oder Institutionen offenzulegen ("Whistleblowing"), fallen in den Geltungsbereich des Art. 10 EMRK (Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung). Bei der erforderlichen Abwägung ist das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in einem (staatlichen) Unternehmen so wichtig, dass es gegenüber dem Interesse dieses Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen regelmäßig überwiegt. Allerdings ist der Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber zu Loyalität, Zurückhaltung und Vertraulichkeit verpflichtet. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine gegen den Arbeitgeber gerichtete Strafanzeige durch den Arbeitnehmer (sog. Whistleblowing) einen Arbeitsvertragsverstoß bis hin zu einem Kündigungsgrund darstellt, hat eine an den Grundrechten der Beteiligten orientierte umfassende Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung von Interessen der Allgemeinheit stattzufinden.
Dabei darf kein Arbeitgeber davon ausgehen, wegen eines gesetzwidrigen Verhaltens nicht angezeigt zu werden. Andererseits darf eine an sich berechtigte Anzeige nicht missbräuchlich gestellt werden – dies soll der Fall sein, wenn objektiv zu erwarten ist, dass der Arbeitgeber auf eine entsprechende innerbetriebliche Beschwerde reagieren und Abhilfe schaffen wird.
Beispiele:
Die vorschnelle Anzeige angeblichen Fehlverhaltens des Arbeitgebers beim Jugendamt durch eine Arbeitnehmerin, die mit der Betreuung von Kleinkindern beschäftigt ist, stellt einen wichtigen Kündigungsgrund dar.
Die Anzeige einer von dem Arbeitgeber oder einem Vorgesetzten begangenen Verletzung von Quarantänebestimmungen rechtfertigt keine außerordentliche Kündigung des anzeigenden Arbeitnehmers. Keinerlei Einschränkungen unterliegt die Anzeige, wenn sich die Straftat gegen den Arbeitnehmer selbst richtet.
Hinweisgeberschutzgesetz
Durch das "Hinweisgeberschutzgesetz" (HinSchG) wurde die Whistleblower-Problematik einer gesetzlichen Regelung zugeführt. Das Gesetz enthält folgende wichtige Regelungen:
- Der persönliche Anwendungsbereich (§ 1 HinSchG) umfasst den Schutz aller Personen, die in ihrem beruflichen Umfeld oder im Vorfeld einer beruflichen Tätigkeit Informationen über Verstöße erlangt und diese an die vorgesehenen sog. "Meldestellen" (vgl. die §§ 12 f., 19 f. HinSchG) kommuniziert haben. Darüber hinaus gilt der Schutz ebenfalls gegenüber denjenigen, die Gegenstand einer Meldung oder Offenlegung sind, sowie sonstigen Personen, die von einer Meldung oder Offenlegung betroffen sind (§ 1 Abs. 2 HinSchG).
- Der sachliche Anwendungsbereich (§ 2 HinSchG) bezieht sich u. a. auf jegliche strafbewehrte und auch bußgeldbewehrte Verstöße, die den Schutz von Leben, Leib oder Gesundheit umfassen oder dem Schutz von Beschäftigten oder ihrer Vertretungsorgane (Betriebsräte etc.) dienen.
- Für hinweisgebende Personen sind 2 gleichwertig nebeneinanderstehende, interne und externe Meldekanäle vorgesehen, zwischen denen sie frei wählen können (§§ 7–31 HinSchG).
- Es werden Voraussetzungen im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes definiert, unter denen eine hinweisgebende Person Informationen über Verstöße öffentlich zugänglich machen darf (§ 32 HinSchG).
- Es besteht ein umfassender Schutz der hinweisgebenden Person vor Repressalien wie Kündigung oder sonstigen Benachteiligungen im Fall einer Veröffentlichung von Hinweisen (§§ 33–39 HinSchG).