Entscheidungsstichwort (Thema)
Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden. Gruppenschutz
Leitsatz (amtlich)
Gehört jeder Gruppe im Betriebsrat nicht mindestens ein Drittel der Mitglieder an, so gilt bei der Wahl des Betriebsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters nicht § 26 Abs. 2 BetrVG, sondern nur § 26 Abs. 1 BetrVG, so daß das Vorschlagsrecht nicht ausschließlich der jeweiligen Gruppe zusteht. Daher kann eine Gruppe auch nicht durch Mehrheitsbeschluß wirksam darauf verzichten, daß ihr entweder der Betriebsratsvorsitzende oder sein Stellvertreter angehört. Für ein Abweichen von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist vielmehr das Vorliegen einsichtiger und vernünftiger Gründe erforderlich.
Normenkette
BetrVG § 26 Abs. 1 S. 2, Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 18. Juli 1991 – 12 TaBV 195/90 – wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
A. Der Antragsteller, Arbeiter und Mitglied des beteiligten Betriebsrates (Beteiligter zu 2), begehrt die Feststellung der Unwirksamkeit der Wahl des Beteiligten zu 3) zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden.
Der beteiligte Betriebsrat ist im Frühjahr 1990 neu gewählt worden. Er hat 29 Mitglieder (26 Angestellte, 3 Arbeiter) und ist für die Zentrale der beteiligten Arbeitgeberin (Beteiligte zu 4), einer Großbank, sowie für deren 36 Geschäftsstellen im Raum Frankfurt am Main gebildet worden. Die Zentrale ist räumlich auf über 60 Gebäude verteilt.
In der konstituierenden Sitzung vom 23. April 1990 wurde ein Angestellter zum Vorsitzenden des Betriebsrates gewählt. Für die Position des Stellvertreters des Vorsitzenden standen zwei Kandidaten zur Verfügung, nämlich der Antragsteller, der sich selbst vorgeschlagen hatte, sowie der Beteiligte zu 3), ein Angestellter, der aus der Mitte des Betriebsrates vorgeschlagen wurde. Außer dem Antragsteller war aus der Gruppe der Arbeiter niemand bereit, diese Position gegebenenfalls zu übernehmen.
Vor der Wahl fand eine Aussprache statt, in der die Frage erörtert wurde, ob es sinnvoll sei, einen Arbeiter zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden zu wählen. Dagegen wurde eingewandt. wegen der besonderen räumlichen Verhältnisse in der Zentrale und der Zuständigkeit für die Geschäftsstellen sei der Vorsitzende des Betriebsrates häufig unterwegs. Daher müsse auch der Stellvertreter des Vorsitzenden in der Lage sein, den Betriebsrat gegenüber der beteiligten Arbeitgeberin zu vertreten. Dies sei bei einem Arbeiter – zumal bei dem erstmals in den Betriebsrat gewählten Antragsteller – nicht gewährleistet, da der Betriebsrat überwiegend mit Fragen aus dem kaufmännischen Bereich befaßt werde. Herr F…, ein Mitglied des Betriebsrates aus der Gruppe der Arbeiter, setzte sich für den Kandidaten der Angestellten ein und verwies darauf, die Arbeiter hätten bereits seit mehreren Wahlperioden auf die Besetzung dieser Position verzichtet. Im Anschluß an diese Aussprache wurde der Beteiligte zu 3) mit 25 Stimmen zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gewählt; der Antragsteller erhielt vier Stimmen.
Der Antragsteller hält diese Wahl wegen Verstoßes gegen § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG für anfechtbar. Seine eigene Kandidatur sei wirksam gewesen. Im Gegensatz zu § 26 Abs. 2 BetrVG sei in § 26 Abs. 1 BetrVG nicht vorgesehen, daß die jeweiligen Kandidaten durch die Gruppe vorgeschlagen werden müssen. Dieses Vorschlagsrecht bilde den Kern des erweiterten Gruppenschutzes in § 26 Abs. 2 BetrVG, daher komme eine analoge Anwendung im Rahmen des § 26 Abs. 1 BetrVG nicht in Betracht. Sachliche Gründe, die ein Abweichen von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG rechtfertigen könnten, seien nicht erkennbar. Geeignet könnten nur solche Gründe sein, die sich aus der objektiven betrieblichen Lage oder aus besonderen Bedingungen der Betriebsratsarbeit ergäben; daher seien die gegen seine Person vorgebrachten Einwände unerheblich. Hilfsweise sei anzumerken, daß die Tatsache, daß er erstmals in den Betriebsrat gewählt worden sei, nicht darauf schließen lasse, daß er nicht in der Lage sei, die angestrebte Position auszufüllen. Auf das Argument, er sei 1989 sehr häufig krank gewesen, könne es schon deshalb nicht ankommen, weil dieses Argument in der Aussprache vor der Wahl kein Rolle gespielt habe. Es sei erst im Verfahren nachgeschoben worden. Im übrigen käme es auf eine Prognose an; aus ärztlicher Sicht spreche nichts gegen die Übernahme des angestrebten Amtes.
Der Antragsteller hat beantragt
festzustellen, daß die Wahl des Beteiligten zu 3) zum stellvertretenden Vorsitzenden des beteiligten Betriebsrats der beteiligten Arbeitgeberin am 23. April 1990 rechtsunwirksam ist.
Die beteiligte Arbeitgeberin hat keinen Antrag gestellt. Der beteiligte Betriebsrat und der Beteiligte zu 3) haben beantragt, den Antrag zurückzuweisen.
Sie sind der Auffassung, § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verlange lediglich, daß die Betriebsratsmitglieder bei ihrer Wahlentscheidung die Gründe, die für oder gegen ein Abweichen von der gesetzlichen Leitvorstellung sprechen, vernünftig abzuwägen hätten. Davon sei hier aufgrund der Aussprache auszugehen. Jedenfalls sei es nicht möglich, rechtlich ein bestimmtes Wahlergebnis – etwa hier die Wahl des Antragstellers – vorzuschreiben, da dies mit dem Begriff der Wahl unvereinbar wäre. Die Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG sei nicht verletzt worden, da sachliche Gründe vorgelegen hätten, keinen Arbeiter – jedenfalls nicht den Antragsteller – zum stellvertretenden Vorsitzenden zu bestimmen. Zum einen werde der stellvertretende Vorsitzende wegen der besonderen räumlichen Verhältnisse und der daraus folgenden häufigen Abwesenheit des Vorsitzenden hier besonders häufig seines Amtes walten müssen; diese Position müsse deshalb mit einem Mitglied besetzt werden, das in der Lage sei, die Interessen der Belegschaft zu vertreten. Dafür sei ein Arbeiter ungeeignet, da überwiegend Probleme aus dem Kaufmännischen Bereich die Arbeit des beteiligten Betriebsrats bestimmten. Zum anderen sei der Antragsteller als erstmals Gewählter dieser Aufgabe nicht gewachsen. Schließlich sei zu bedenken, daß er allein im Jahre 1989 an 160 Tagen Krankheitsbedingt gefehlt habe.
Das Arbeitsgericht und das Landsarbeitsgericht haben den Antrag zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Antragsteller seinen Antrag weiter. Die Beteiligten zu 2) und 3) bitten um die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.
Entscheidungsgründe
B. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, daß bei der Wahl des Beteiligten zu 3) nicht gegen Rechtsvorschriften verstoßen wurde. Allerdings kann sich der Senat der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung nicht in allen Einzelheiten anschließen. Der Senat folgt vielmehr der Würdigung des Arbeitsgerichts, daß der Betriebsrat bei der Wahl vom 23. April 1990 vernünftige Gründe hatte, von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abzuweichen.
I. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere steht seiner Zulässigkeit nicht entgegen, daß er nach seinem Wortlaut lediglich darauf gerichtet ist, die Unwirksamkeit der Wahl vom 23. April 1990 festzustellen, nicht aber darauf, die Wahl anzufechten, d. h. durch eine gerichtliche Gestaltungsentscheidung für unwirksam zu erklären.
Zwar müssen Gesetzesverstöße bei einer betriebsratsinternen Wahl (hier der Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden), sofern sie nicht zur Nichtigkeit der Wahl führen, in entsprechender Anwendung des § 19 BetrVG binnen einer Frist von zwei Wochen seit Bekanntgabe der Wahl in einem Wahlanfechtungsverfahren gerichtlich geltend gemacht werden (BAG Beschlüsse vom 13. November 1991 – 7 ABR 8/91 – und vom 11. März 1992 – 7 ABR 50/91 – alle zur Veröffentlichung auch in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt). Indessen ist der Antrag des Antragstellers dahin auszulegen, daß mit ihm auch eine derartige gerichtliche Gestaltungsentscheidung begehrt wird. Der Antrag ist auch innerhalb der hier entsprechend geltenden Zwei-Wochen-Frist des § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG, nämlich am 25. April 1990, gestellt worden.
II. Der Begründung des Landesarbeitsgerichts kann sich der Senat nicht anschließen.
1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Gruppe der Arbeiter habe hier wirksam auf ihr Recht auf Besetzung dieser Position verzichtet. Dafür bedürfe es lediglich einer Mehrheitsentscheidung in der Gruppe, keinen Kandidaten für diese Position vorzuschlagen. Diese Voraussetzung sei hier gegeben. Das Betriebsratsmitglied F…, ein Arbeiter, habe sich für den Beteiligten zu 3), den Kandidaten der Angestellten, ausgesprochen und darauf hingewiesen, daß die Arbeiter schon seit mehreren Wahlperioden auf einen eigenen Kandidaten verzichtet hätten. Da der Antragsteller diesen Ausführungen nicht widersprochen habe, habe das Plenum davon ausgehen dürfen, daß sich die Gruppe der Arbeiter mehrheitlich gegen die Aufstellung eines eigenen Kandidaten entschieden habe. Die eigene Kandidatur des Antragstellers, der sich selbst vorgeschlagen hatte, hat das Landesarbeitsgericht für nicht wirksam gehalten. Wie in § 26 Abs. 2 BetrVG ausdrücklich geregelt, Stehe das Vorschlagsrecht nur den Gruppen zu. Das gelte auch für den Fall, daß § 26 Abs. 1 BetrVG zur Anwendung komme. Die gegenteilige Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (Beschluß vom 26. März 1987 – 6 ABR 1/86 – AP Nr. 7 zu § 26 BetrVG 1972) sei mit der Novellierung des BetrVG 1988 und der gebotenen gruppenfreundlichen Auslegung des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG nicht mehr vereinbar und daher überholt.
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß nach den Kräfteverhältnissen innerhalb des beteiligten Betriebsrates die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden den Bindungen aus § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG unterlag. Nach dieser Vorschrift sollen, wenn der Betriebsrat aus Vertretern beider Gruppen besteht, der Vorsitzende und sein Stellvertreter nicht derselben Gruppe angehören.
Die Voraussetzung, daß dem Betriebsrat überhaupt Vertreter beider Gruppen angehören, ist erfüllt. Andererseits liegen die Voraussetzungen für den weitergehenden Gruppenschutz aus § 26 Abs. 2 BetrVG nicht vor, da die Gruppe der Arbeiter mit drei von 29 Mitgliedern nur knapp 1/9 der Sitze auf sich vereinen kann.
3. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann die durch diese Norm bevorzugte kleinere Gruppe nicht auf die Besetzung dieser Position verzichten. § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist eine zwingende Norm, die die kleinere Gruppe nicht nur bevorzugt, sondern auch verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht nur dort nicht, wo im Hinblick auf die Formulierung des Gesetzes als 'Sollvorschrift” ein Abweichen von dem gesetzlichen Leitbild gerechtfertigt erscheint.
a) § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist eine zwingende Norm. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kommt ihr nicht nur eine Appellfunktion zu. Vielmehr schränkt sie die Entscheidungsfreiheit des Betriebsrates bei der Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters ein. Wegen der Bedeutung des Gruppenschutzes stellt ein Verstoß gegen diese Vorschrift einen Verstoß gegen eine wesentliche Wahlvorschrift dar (vgl. Beschluß des Ersten Senats vom 12. Oktober 1976, BAGE 28, 219, 223 = AP Nr. 2 zu § 26 BetrVG 1972, zu II 3b der Gründe; Beschluß des Sechsten Senats vom 26. März 1987 – 6 ABR 1/86 – AP Nr. 7 zu § 26 BetrVG 1972, zu II 2c der Gründe). Dieser Auslegung des Gesetzes hat sich der erkennende Senat mit Hinweis auf den durch die Novelle zum BetrVG vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2312) nochmals verstärkten Gruppenschutz angeschlossen (vgl. Beschluß vom 13. November 1991 – 7 ABR 8/91 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu B 2 der Gründe).
Die Ausgestaltung der Norm als “Sollvorschrift” ändert nichts an ihrem zwingenden Charakter (ebenso Wiese in GK-BetrVG, 4. Aufl., § 26 Rz 3). Die gesetzliche Formulierung ermöglicht vielmehr nur dann ein Abweichen von der gesetzlichen Leitvorstellung, wenn dafür einsichtige, vernünftige Gründe vorliegen (vgl. Senatsbeschluß, aaO, mit Hinweisen auf frühere Rechtsprechung).
b) Von einer zwingenden Norm kann weder freiwillig noch einvernehmlich abgewichen werden; ein Verzicht der durch die Norm begünstigten Gruppe ist daher nicht denkbar (ebenso Wiese, aaO, § 26 Rz 24; in diesem Sinne auch der zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmte Senatsbeschluß vom 11. März 1992 – 7 ABR 50/91 – zur ebenfalls zwingenden Norm des § 38 Abs. 2 Satz 3 BetrVG).
c) Daher war die Gruppe der Arbeiter des beteiligten Betriebsrates nicht berechtigt, auf die Besetzung der Position des stellvertretenden Vorsitzenden zu verzichten.
4. Auch die weitere Begründung des Landesarbeitsgerichts ist mit dem Gesetz nicht vereinbar. Der Vorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG kann nicht entnommen werden, daß Kandidaten für die Position des Vorsitzenden und des stellvertretenden Vorsitzenden nur von den beiden Gruppen vorgeschlagen werden können. Gegen die Wirksamkeit der Kandidatur des Antragstellers, der sich selbst vorgeschlagen hatte, bestehen daher keine Bedenken.
a) Nach § 26 Abs. 1 BetrVG ist eine Vorauswahl der Kandidaten innerhalb der Gruppen – so wie in § 26 Abs. 2 BetrVG – nicht vorgesehen. Vielmehr wählt der Betriebsrat aus seiner Mitte den Vorsitzenden und seinen Stellvertreter. Diese Regelung bezieht sich nicht nur auf das aktive, sondern auch auf das passive Wahlrecht; alle Mitglieder des Betriebsrates sind berechtigt, für diese Positionen zu kandidieren.
b) Eine analoge Heranziehung des Gruppenvorschlagsrechts aus § 26 Abs. 2 BetrVG für die Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters für alle Betriebsräte unabhängig von den internen Kräfteverhältnissen ist angesichts der differenzierten gesetzlichen Berücksichtigung der Gruppen nicht möglich.
Seit der Novelle zum Betriebsverfassungsgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2312) sieht das Gesetz nunmehr durchgehend einen je nach Stärke der Gruppe im Betriebsrat differenzierten Gruppenschutz vor. Erreicht die Gruppe ein – im einzelnen variierendes – Quorum, so stehen ihr eigene Wahl- und Vorschlagsrechte zu (vgl. § 26 Abs. 2, § 27 Abs. 2 Satz 3 und § 38 Abs. 2 Satz 4 BetrVG). Erreicht die Gruppe diese Stärke nicht, fehlt ihr jegliche Eigenständigkeit. Das Interesse der Gruppen wird dann nur noch indirekt dadurch geschützt, daß das Gesetz für die Besetzung bestimmter Positionen eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit vorschreibt (vgl. z.B. § 26 Abs. 1 Satz 2, § 27 Abs. 2 Satz 1 und 2, § 38 Abs. 2 Satz 3 BetrVG). Die Gruppenzugehörigkeit ist hier eine bloße Eigenschaft der Kandidaten, ohne daß dadurch der Gruppe als solcher irgendeine Bedeutung zukommt.
Diese gesetzliche Differenzierung des Gruppenschutzes je nach dem Gewicht der kleineren Gruppe verbietet es, unter pauschalem Verweis auf die Bedeutung des Gruppen- bzw. des Minderheitenschutzes (so Kamphausen, NZA 1991, 880, 885; früher ebenso bereits Richardi, in Anm. zu BAG Beschluß vom 12. Oktober 1976 – 1 ABR 17/76 – AP Nr. 2 zu § 26 BetrVG 1972, zu III seiner Gliederung) Elemente des qualifizierten Gruppenschutzes auf den einfachen Gruppenschutz zu übertragen. Daher kann der Gedanke einer Vorauswahl der Kandidaten in ihren Gruppen aus § 26 Abs. 2 BetrVG nicht auf die Wahl nach § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG übertragen werden.
Angesichts der inzwischen sehr ausdifferenzierten gesetzlichen Berücksichtigung des Gruppenschutzes kommt dem gegenteiligen Standpunkt des Ersten Senats in seiner Entscheidung vom 29. Januar 1965 (– 1 ABR 8/64 – AP Nr. 8 zu § 27 BetrVG 1952, zu 1 der Gründe) keine Bedeutung mehr zu. Zum Zeitpunkt der Entscheidung gab es weder eine dem heutigen § 26 Abs. 2 BetrVG entsprechende Vorschrift, noch gab es die erst 1988 Gesetz gewordenen vorerwähnten eigenen Entscheidungs- und Vorschlagsrechte der Gruppen. Es bestand daher damals noch ein wesentlich größerer Spielraum für die Gesetzesinterpretation.
III. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist jedoch im Ergebnis richtig, weil, wie bereits das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, vernünftige und einsichtige Gründe vorlagen, den Antragsteller nicht zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden zu wählen. Da weitere Mitglieder der Gruppe der Arbeiter für diese Position nicht zur Verfügung standen, verstößt daher die Wahl des Beteiligten zu 3) zum stellvertretenden Vorsitzenden nicht gegen § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG.
1. § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist zwar eine zwingende gesetzliche Vorschrift. Durch die Verwendung des Wortes “soll” ist der Tatbestand dieser Norm jedoch nicht abschließend geregelt, so daß die im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge (unterschiedliche Gruppenzugehörigkeit) nicht in jedem Falle Geltung verlangt. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der sich der erkennende Senat inzwischen angeschlossen hat, kann vielmehr dann von § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abgewichen werden, wenn dafür vernünftige und einsichtige Gründe gegeben sind (vgl. Senatsbeschluß vom 13. November 1991 – 7 ABR 8/91 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu B 2 der Gründe, m.w.N.).
Entscheidend sind dabei nicht die Motive und Gründe, die die Wahlentscheidung der einzelnen Wähler geprägt haben mögen. Entscheidend ist auch nicht, ob der Betriebsrat sich in einer Aussprache mit den einzelnen Gesichtspunkten auseinandergesetzt hat. Es kommt vielmehr darauf an, ob die betrieblichen Verhältnisse oder die Anforderungen an die Betriebsratsarbeit aus objektiver Sicht ein Abweichen von der gesetzlichen Leitvorstellung rechtfertigen können (vgl. Beschluß des Ersten Senats vom 6. Juli 1956 – 1 ABR 7/55 – BAGE 3, 80, 82 f. = AP Nr. 4 zu § 27 BetrVG 1952, am Ende).
2. Gemessen hieran durfte der beteiligte Betriebsrat hier beide Positionen mit Angestellten besetzen.
a) Bereits die erheblichen krankheitsbedingten Fehlzeiten des Antragstellers stellen einen sachlichen, vernünftigen Grund dar, ihm nicht die herausgehobene Position eines stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden zu übertragen.
aa) Der stellvertretende Vorsitzende des Betriebsrates hat dieselben Aufgaben und Befugnisse wie der Betriebsratsvorsitzende für die Zeiten, in denen dieser verhindert ist. Die Funktionsfähigkeit des Betriebsrates erfordert es daher, diese Position einem Mitglied zu übertragen, das im Verhinderungsfalle tatsächlich einsatzbereit ist. Dabei kommt der Einsatzbereitschaft des stellvertretenden Vorsitzenden insofern eine besondere Bedeutung zu, als das Gesetz für den Fall seiner Verhinderung keine weitere Vertretungsregelung geschaffen hat. Für die Funktionsfähigkeit des Betriebsrates ist daher die Einsatzbereitschaft des stellvertretenden Vorsitzenden von noch größerer Bedeutung als die des Vorsitzenden des Betriebsrates.
bb) Aufgrund der festgestellten Tatsachen ist davon auszugehen, daß der Antragsteller so erkrankt ist, daß weitere Ausfallzeiten aufgrund dieser Erkrankung zu erwarten waren. Das Landesarbeitsgericht hat durch Bezugnahme auf den Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Beschlusses festgestellt, daß der Antragsteller 1989 an 160 Arbeitstagen wegen Krankheit von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung befreit war. 1990 hat er zwar an der konstituierenden Sitzung des Betriebsrates (am 23. April 1990) teilgenommen, war in der Folgezeit jedoch wieder vom 21. Mai 1990 bis mindestens zur mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht am 26. September 1990 krank geschrieben. Während das Verfahren in der Beschwerdeinstanz anhängig war, war der Antragsteller zwar zeitweise wieder arbeitsfähig. Nach dem Vortrag der Beteiligten zu 2) und 3) in der Rechtsbeschwerdeinstanz ist der Antragsteller inzwischen jedoch wieder arbeitsunfähig krank.
Auch ohne Berücksichtigung dieser möglicherweise bestehenden neuerlichen Arbeitsunfähigkeit läßt sich feststellen, daß der Antragsteller häufig und langandauernd arbeitsunfähig krank war. Dies läßt den Schluß zu, daß er zur Wahrnehmung einer Funktion, bei der es ganz besonders auf möglichst dauernde Einsatzfähigkeit ankommt, nicht hinreichend geeignet ist. Mit dieser Feststellung ist kein Urteil über die Persönlichen Fähigkeiten und Leistungen des Antragstellers verbunden. Es zeugt jedoch von einer verantwortungsbewußten und damit verständigen Einstellung des Betriebsrats, wenn er an die physische Konstitution seines Vorsitzenden und dessen Stellvertreters wegen ihrer herausgehobenen Position und ihrer damit gegebenen Verantwortung für den Betriebsrat und die Belegschaft strenge Anforderungen stellt.
b) Für die Position des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden stand auch kein weiteres Mitglied der Gruppe der Arbeiter zur Verfügung. Zwar gehören weitere zwei Arbeiter dem Betriebsrat an. Diese hatten jedoch keine Bereitschaft gezeigt, sich wählen zu lassen. Da niemand zur Übernahme einer herausgehobenen Position im Betriebsrat gezwungen werden kann, stand damit kein Arbeiter des beteiligten Betriebsrates zur Wahl zur Verfügung.
Nach der Rechtsprechung des Ersten Senats (vgl. Beschluß vom 29. Januar 1965 – 1 ABR 8/64 – AP Nr. 8 zu § 27 BetrVG 1952, zu 2 der Gründe) können Mitglieder des Betriebsrats auf eine Kandidatur für die Position des Vorsitzenden oder des stellvertretenden Vorsitzenden verzichten. Der Erste Senat hat dies daraus gefolgert, daß ein Gewählter nur dann Inhaber des Wahlamtes wird, wenn er diese Wahl auch annimmt. Der Verzicht wird also als vorweggenomme Erklärung der Nichtannahme der Wahl angesehen. Dieser Rechtsprechung schließt sich der Senat an.
c) Der Betriebsrat ist daher zu Recht davon ausgegangen, es stehe kein geeignetes Mitglied aus der Gruppe der Arbeiter für die Position des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden zur Verfügung. Ohne Verstoß gegen § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG konnte der Betriebsrat daher mit dem Beteiligten zu 3) einen weiteren Angestellten in diese Position wählen.
Unterschriften
Dr. Seidensticker, Kremhelmer, Dr. Steckhan, Nottelmann, Bea
Fundstellen
NZA 1993, 270 |
RdA 1992, 400 |