Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung. Zurückweisung mangels Vorlage einer Vollmacht. sexuelle Belästigung. Interessenabwägung
Leitsatz (amtlich)
Eine Entblößung der Genitalien eines anderen unter Missachtung seines Rechts auf Selbstbestimmung, wem gegenüber und in welcher Situation er sich unbekleidet zeigen möchte, stellt ein sexuell bestimmtes Verhalten iSv. § 3 Abs. 4 AGG dar.
Orientierungssatz
1. Die Zurückweisung nach § 174 Satz 1 BGB ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Maßgeblich dafür, ob sie unverzüglich erfolgte, ist ihr Zugang beim Erklärungsempfänger. Als Sondervorschrift für die Anfechtung gem. §§ 119, 120 BGB findet die Regelung in § 121 Abs. 1 Satz 2 BGB keine, auch keine analoge Anwendung (Rn. 13).
2. Entsprechend den zu § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB aufgestellten Grundsätzen muss die Zurückweisung nach § 174 Satz 1 BGB nicht sofort erfolgen, sondern nur ohne schuldhaftes Zögern. Dem Erklärungsempfänger ist eine gewisse Zeit zur Überlegung und zur Einholung des Rats eines Rechtskundigen darüber einzuräumen, ob er das einseitige Rechtsgeschäft wegen fehlender Vorlage eines Vollmachtbelegs zurückweisen soll. Innerhalb welcher Zeitspanne der Erklärungsempfänger das Rechtsgeschäft zurückweisen muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Zurückweisung einer Kündigungserklärung ist ohne Vorliegen besonderer Umstände nach mehr als einer Woche nicht mehr unverzüglich iSd. § 174 Satz 1 BGB (Rn. 14).
3. Hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer darüber in Kenntnis gesetzt, dass er eine Person in die Stellung als Personalleiter berufen hat, ist dies üblicherweise dahin zu verstehen, dass die Person die alleinige Vertretungsmacht hat, für ihn die Kündigung von Arbeitsverhältnissen zu erklären. Die Zurückweisung einer vom Personalleiter unterzeichneten Kündigung ist in diesem Fall nach § 174 Satz 2 BGB ausgeschlossen. Eine Praxis, Kündigungen außerdem von einem weiteren Mitarbeiter unterschreiben zu lassen, besagt für sich genommen nicht, die Bevollmächtigung des Personalleiters sei im Außenverhältnis auf eine Gesamtvertretungsmacht beschränkt (Rn. 17 ff.).
4. Die Interessenabwägung im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB hat im Falle einer Vertragspflichtverletzung ua. zum Gegenstand, ob dem Kündigenden eine mildere Reaktion als eine fristlose Kündigung, etwa eine Abmahnung oder fristgerechte Kündigung zumutbar war. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Liegt nur eine dieser Fall gruppen vor, kann Ergebnis der Interessenabwägung nicht sein, den Kündigenden auf eine Abmahnung als milderes Mittel zu verweisen. Die zweite Fallgruppe betrifft ausschließlich das Gewicht der in Rede stehenden Vertragspflichtverletzung. Dieses bestimmt sich unabhängig von einer Wiederholungsgefahr und sonstigen Umständen, die Gegenstand der weiteren Interessenabwägung sein können – wie einem bislang unbelasteten Arbeitsverhältnis oder einer nach der Pflichtverletzung gezeigten Reue – allein nach der Pflichtwidrigkeit und den Umständen ihrer Begehung, also insbesondere ihrer Art und ihrem Ausmaß, ihren Folgen, dem Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers und der Situation, in der sie sich ereignete (Rn. 27).
Normenkette
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1; AGG § 3 Abs. 4, § 7 Abs. 3, § 12 Abs. 3; BGB § 121 Abs. 1 S. 1, §§ 174, 241 Abs. 2, § 626; KSchG § 4 S. 1, § 6; BetrVG § 102 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 25. November 2020 - 5 Sa 128/20 - aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von drei außerordentlichen Kündigungen.
Rz. 2
Die Beklagte produziert Automobile. Der Kläger war bei ihr seit 2014, zuletzt in der Fertigung, beschäftigt. In der Nachtschicht vom 1./2. Mai 2019 näherte er sich einem am sog. Ritzpräger eingesetzten Leiharbeitnehmer und zog diesem unvermittelt mit beiden Händen die Arbeits- und die Unterhose herunter. Der Leiharbeitnehmer beschwerte sich darüber bei seiner Arbeitgeberin und blieb in der folgenden Nachtschicht der Arbeit fern.
Rz. 3
Nach mehreren in der Zeit ab dem 3. Mai 2019 geführten Personalgesprächen bat der Kläger am 15. Mai 2019 um ein weiteres Personalgespräch, in dessen Verlauf er sich für den Vorfall entschuldigte.
Rz. 4
Mit Schreiben vom 21. Mai 2019, dem Kläger am selben Tag zugegangen, sowie vorsorglich erneut mit Schreiben vom 5. Juni 2019 und 19. August 2019 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien jeweils außerordentlich fristlos. Die Kündigungsschreiben waren vom Personalleiter der Beklagten mit dem Zusatz „Leiter Personal“ und einer weiteren Mitarbeiterin unterzeichnet. Die Beifügung von zwei Unterschriften auf Kündigungsschreiben beruht bei der Beklagten auf einer bei ihr bestehenden Unterschriftenliste.
Rz. 5
Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 23. Mai 2019 wies der Kläger die Kündigung vom 21. Mai 2019 wegen des Fehlens einer Originalvollmachtsurkunde der unterzeichnenden Personen zurück, ebenso mit Schreiben vom 12. Juni 2019 und 20. August 2019 die Kündigungen vom 5. Juni 2019 und 19. August 2019.
Rz. 6
Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigungen geltend gemacht. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Die Beklagte habe die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt und den Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört. Der Leiharbeitnehmer habe ihm sechs Monate zuvor die Arbeitshose heruntergezogen.
Rz. 7
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
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1. |
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 21. Mai 2019 nicht aufgelöst wurde; |
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2. |
die Beklagte zu verurteilen, ihn zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Fertiger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits weiterzubeschäftigen; |
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3. |
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 5. Juni 2019 nicht aufgelöst wurde; |
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4. |
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 19. August 2019 nicht aufgelöst wurde. |
Rz. 8
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die Revision ist begründet. Mit der gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht die Berufung gegen das der Klage stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts nicht zurückweisen. Der Senat kann aufgrund der bisher vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht über die Kündigungsschutzklage befinden. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
Rz. 10
I. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung der Beklagten vom 21. Mai 2019 sei nach § 174 Satz 1 BGB unwirksam, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 11
1. Aus dem Berufungsurteil ergibt sich schon nicht, dass der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung aus diesem Grund rechtzeitig gem. § 4 Satz 1, § 6 Satz 1 KSchG geltend gemacht hat.
Rz. 12
2. Es fehlt zudem an Feststellungen, die die Annahme tragen, der Kläger habe die Kündigung vom 21. Mai 2019 iSv. § 174 Satz 1 BGB unverzüglich zurückgewiesen.
Rz. 13
a) Die Zurückweisung nach § 174 Satz 1 BGB ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung (allg. Meinung, vgl. nur MüKoBGB/Schubert 8. Aufl. § 174 Rn. 20). Maßgeblich dafür, ob sie unverzüglich erfolgte, ist ihr Zugang beim Erklärungsempfänger (vgl. BAG 8. Dezember 2011 - 6 AZR 354/10 - Rn. 33, BAGE 140, 64; 5. April 2001 - 2 AZR 159/00 - zu B II 2 b der Gründe). Als Sondervorschrift für die Anfechtung gem. §§ 119, 120 BGB findet die Regelung in § 121 Abs. 1 Satz 2 BGB keine, auch keine analoge Anwendung (zu § 18 Abs. 6 SchwbG vgl. BAG 3. Juli 1980 - 2 AZR 340/78 - zu II 3 a bb der Gründe, BAGE 34, 20). Das Erfordernis der Unverzüglichkeit einer Zurückweisung nach § 174 Satz 1 BGB dient dem Schutz des Erklärungsgegners, nicht, wie § 121 Abs. 1 Satz 2 BGB, dem Schutz des Erklärenden.
Rz. 14
b) Dagegen gilt die Legaldefinition von „unverzüglich“ in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB im gesamten bürgerlichen Recht (allg. Meinung, vgl. nur Jauernig/Mansel BGB 18. Aufl. § 121 Rn. 1). Entsprechend den zu dieser Bestimmung aufgestellten Grundsätzen muss die Zurückweisung nach § 174 Satz 1 BGB daher nicht sofort erfolgen, sondern nur ohne schuldhaftes Zögern. Dem Erklärungsempfänger ist eine gewisse Zeit zur Überlegung und zur Einholung des Rats eines Rechtskundigen darüber einzuräumen, ob er das einseitige Rechtsgeschäft wegen fehlender Vorlage eines Vollmachtbelegs zurückweisen soll (BAG 5. Dezember 2019 - 2 AZR 147/19 - Rn. 48, BAGE 169, 38). Innerhalb welcher Zeitspanne der Erklärungsempfänger das Rechtsgeschäft zurückweisen muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (BAG 5. Dezember 2019 - 2 AZR 147/19 - aaO; 8. Dezember 2011 - 6 AZR 354/10 - Rn. 32, BAGE 140, 64). Da die Zurückweisung keinerlei Nachforschungen über die wirklichen Vertretungs- und Vollmachtsverhältnisse und keinen schwierigen Abwägungsprozess erfordert, sondern lediglich an das Fehlen der Vollmachtsurkunde knüpft, ist unter normalen Umständen eine Zeitspanne von einer Woche ausreichend (BAG 8. Dezember 2011 - 6 AZR 354/10 - Rn. 33, aaO). Die Zurückweisung einer Kündigungserklärung ist daher ohne Vorliegen besonderer Umstände nach mehr als einer Woche nicht mehr unverzüglich iSd. § 174 Satz 1 BGB (BAG 13. Dezember 2012 - 6 AZR 608/11 - Rn. 67). Die Frist beginnt mit der tatsächlichen Kenntnis des Empfängers von der Kündigung und der fehlenden Vorlegung einer Vollmachtsurkunde (BAG 8. Dezember 2011 - 6 AZR 354/10 - Rn. 33, aaO).
Rz. 15
c) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger habe die Kündigung vom 21. Mai 2019 mit Einwurfeinschreiben vom 23. Mai 2019 zurückgewiesen. Es hat jedoch nicht festgestellt, dass und wann es der Beklagten zugegangen ist. Seine Würdigung, unter Berücksichtigung der regelmäßigen Postlaufzeiten sei davon auszugehen, dass das Schreiben jedenfalls innerhalb einer Woche nach Zugang der Kündigung bei der Beklagten eingegangen sei, wird nicht von Tatsachen getragen. Es ist schon nicht festgestellt, dass das Zurückweisungsschreiben zumindest vor Ablauf der Wochenfrist zur Post gegeben wurde. Auch die im Tatbestand des Berufungsurteils in Bezug genommene Ablichtung des Schreibens lässt nicht den Zeitpunkt seiner Aufgabe erkennen.
Rz. 16
3. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das Zurückweisungsrecht des Klägers sei nicht nach § 174 Satz 2 BGB ausgeschlossen gewesen, ist nicht frei von Rechtsfehlern.
Rz. 17
a) Das Kündigungsschreiben war ua. vom „Leiter Personal“ der Beklagten über der Angabe seiner Funktion handschriftlich unterzeichnet. Das Berufungsgericht hat zugunsten der Beklagten unterstellt, der Kläger sei von dessen Bevollmächtigung nach § 174 Satz 2 BGB in Kenntnis gesetzt gewesen.
Rz. 18
b) Sollte das Inkenntnissetzen dadurch erfolgt sein, dass die Beklagte den Kläger darüber informierte, den Unterzeichner in die Stellung als Personalleiter berufen zu haben, wäre dies wie im Arbeitsleben üblich dahin zu verstehen, dass dieser bevollmächtigt ist, für die Arbeitgeberin die Kündigung von Arbeitsverhältnissen zu erklären (vgl. BAG 25. September 2014 - 2 AZR 567/13 - Rn. 20, 24). Der Arbeitnehmer, der über die Person des Personalleiters hinreichend in Kenntnis gesetzt ist, muss aus dieser Stellung folgern, der Personalleiter habe im Verhältnis zur Belegschaft eine alleinige Vertretungsmacht zum Ausspruch von Kündigungen (BAG 25. September 2014 - 2 AZR 567/13 - Rn. 24; vgl. auch BAG 29. Oktober 1992 - 2 AZR 460/92 - zu II 2 der Gründe).
Rz. 19
c) Aus dem Umstand, dass das Kündigungsschreiben noch von einer weiteren Mitarbeiterin unterschrieben war, folgt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nichts anderes. Darin lag keine Erklärung der Beklagten, die Bevollmächtigung des Personalleiters sei im Außenverhältnis auf eine Gesamtvertretungsmacht beschränkt. Das Berufungsurteil differenziert insoweit nicht - wie erforderlich - zwischen dem Innen- und dem Außenverhältnis der Vollmacht (vgl. dazu statt vieler MüKoBGB/Schubert 8. Aufl. § 164 Rn. 209). Eine - selbst durch das Vorhandensein einer Unterschriftenliste belegte - Praxis, Kündigungsschreiben nicht nur vom Personalleiter, sondern zusätzlich von einer weiteren Person unterschreiben zu lassen, kann allein einer entsprechenden Beschränkung der Vollmacht im Innenverhältnis geschuldet sein, etwa zur Wahrung eines Vier-Augen-Prinzips.
Rz. 20
II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Kündigung vom 21. Mai 2019 erweist sich nach den bisherigen Feststellungen nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO). Die Sache ist auch nicht zugunsten der Beklagten zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Rz. 21
1. Ob die Kündigung vom 21. Mai 2019 aus anderen Gründen unwirksam ist, hat das Landesarbeitsgericht ausdrücklich offengelassen. Geltend gemacht hat der Kläger ua. das Fehlen eines wichtigen Grundes. Ob ein solcher gegeben ist, steht bislang nicht fest. Die Beklagte hat sich zur Rechtfertigung dieser Kündigung und der Kündigungen vom 5. Juni 2019 und 19. August 2019 auf einen identischen Sachverhalt berufen, den das Berufungsgericht - aus seiner Sicht konsequent - nur bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der letztgenannten Kündigungen gewürdigt hat. Selbst wenn der Senat diesen Sachverhalt auch einer Prüfung der Kündigung vom 21. Mai 2019 zugrunde legt, bedürfte es für eine abschließende Entscheidung weiterer Feststellungen.
Rz. 22
a) Nach den nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat der Kläger einem Leiharbeitnehmer in der Nachtschicht des 1./2. Mai 2019 nicht nur die Arbeitshose, sondern auch die Unterhose heruntergezogen, so dass dieser für mehrere Sekunden im Genitalbereich entblößt im sog. Takt gestanden hat. Er war den Blicken von mehreren Arbeitskollegen und deren Gelächter ausgesetzt.
Rz. 23
b) Das vom Landesarbeitsgericht festgestellte Verhalten des Klägers ist „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden. Es handelt sich um eine erhebliche Verletzung seiner Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Beklagten gem. § 241 Abs. 2 BGB. Die Beklagte hat ein eigenes schutzwürdiges Interesse daran, dass ihre Arbeitnehmer mit den in ihrem Betrieb eingesetzten Leiharbeitnehmern respektvoll umgehen und gedeihlich zusammenarbeiten. Sie ist nach § 12 Abs. 1 und 3 AGG verpflichtet, auch diese vor sexuellen Belästigungen zu schützen. Der Kläger bedrängte den Leiharbeitnehmer während der Arbeitszeit und hielt ihn dadurch, ebenso wie die den Vorfall beobachtenden Kollegen, von der Arbeit ab. Das Entblößen seiner - des Leiharbeitnehmers - Genitalien stellte überdies einen erheblichen und entwürdigenden Eingriff in seine Intimsphäre und damit eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG dar. Zugleich kann es sich dabei um eine sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs. 4 AGG gehandelt haben.
Rz. 24
aa) Auch eine sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs. 4 AGG ist gem. § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten, die „an sich“ als wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 15, BAGE 159, 267; 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 - Rn. 15, BAGE 150, 109). Sie liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch sexuell bestimmte körperliche Berührungen und Bemerkungen sexuellen Inhalts gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 17, aaO). Schutzgut der § 7 Abs. 3, § 3 Abs. 4 AGG ist die sexuelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 18, aaO). Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird als das Recht verstanden, selbst darüber zu entscheiden, unter den gegebenen Umständen von einem oder mehreren anderen in ein sexualbezogenes Geschehen involviert zu werden (Köhler/Koops BB 2015, 2807, 2808). Das schließt es ein, selbst über einen Eingriff in die Intimsphäre durch körperlichen Kontakt zu bestimmen (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 18, aaO). Die absichtliche Berührung der primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale eines anderen ist bereits deshalb sexuell bestimmt iSd. § 3 Abs. 4 AGG, weil es sich um einen auf die körperliche Intimsphäre gerichteten Übergriff handelt (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 18, aaO; vgl. auch BAG 2. März 2017 - 2 AZR 698/15 - Rn. 36; 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 - Rn. 18, aaO). Ein sexualbezogener Übergriff liegt auch dann vor, wenn die Genitalien eines anderen nicht berührt, aber unter Missachtung seines Rechts auf Selbstbestimmung, wem gegenüber und in welcher Situation er sich unbekleidet zeigen möchte, entblößt werden. Auch ein solches Verhalten hat das Geschlechtliche im Menschen zum unmittelbaren Gegenstand (vgl. zu diesem Erfordernis MüKoBGB/Thüsing 8. Aufl. AGG § 3 Rn. 72). Bei anderen Handlungen, für die dies nicht ohne Weiteres zutrifft, wie beispielsweise Umarmungen, kann sich eine Sexualbezogenheit aufgrund der mit ihnen verfolgten sexuellen Absicht ergeben (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 18, aaO; 2. März 2017 - 2 AZR 698/15 - aaO). Eine solche kann auch darin bestehen, den Betroffenen unter Verletzung seines Rechts auf Selbstbestimmung sexualbezogen zu beschämen. Geht es dagegen um ein Verhalten, das das Geschlechtliche im Menschen unmittelbar zum Gegenstand hat, genügt für das „Bewirken“ iSv. § 3 Abs. 4 AGG der bloße Eintritt der Belästigung. Gegenteilige Absichten oder Vorstellungen der für dieses Ergebnis aufgrund ihres Verhaltens objektiv verantwortlichen Person spielen keine Rolle (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 20, aaO; 9. Juni 2011 - 2 AZR 323/10 - Rn. 19). Das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit verlangt - anders als noch § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BSchG - nicht, dass der Betroffene seine ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht hat. Maßgeblich ist allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war (BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 21, aaO).
Rz. 25
bb) Das Entblößen der Genitalien des Leiharbeitnehmers in der Nachtschicht vom 1./2. Mai 2019 kann danach eine sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs. 4 AGG dargestellt haben. Allerdings hat der Kläger behauptet, er habe nicht beabsichtigt, dem Leiharbeitnehmer auch die Unterhose herunterzuziehen. Sollte dies zutreffen, könnte es an einem iSv. § 3 Abs. 4 AGG sexuell bestimmten Verhalten des Klägers fehlen. Es läge zwar auch dann ein erheblicher Übergriff vor, dieser wäre aber womöglich nicht auf eine sexualbezogene Beschämung des Leiharbeitnehmers gerichtet gewesen, wenn auch dies indes nicht ausgeschlossen ist. Ob das Vorbringen des Klägers zutrifft und welche Absicht er in diesem Fall mit dem Herunterziehen der Arbeitshose des Leiharbeitnehmers verfolgte, bedarf näherer Sachverhaltsaufklärung zu den Umständen des Vorfalls und einer darauf bezogenen tatrichterlichen Würdigung.
Rz. 26
c) Für die nach § 626 Abs. 1 BGB erforderliche umfassende Interessenabwägung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Streitfalls fehlt es ebenfalls an Feststellungen.
Rz. 27
aa) Die Interessenabwägung im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB hat bei Vorliegen einer Vertragspflichtverletzung ua. zum Gegenstand, ob dem Kündigenden eine mildere Reaktion als eine fristlose Kündigung, also insbesondere eine Abmahnung oder fristgerechte Kündigung zumutbar war. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG 27. Februar 2020 - 2 AZR 570/19 - Rn. 23, BAGE 170, 84; 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 30; 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 28, BAGE 159, 267). Liegt nur eine dieser Fallgruppen vor, kann Ergebnis der Interessenabwägung nicht sein, den Kündigenden auf eine Abmahnung als milderes Mittel zu verweisen (vgl. BAG 27. Februar 2020 - 2 AZR 570/19 - Rn. 24, aaO). Die zweite Fallgruppe betrifft ausschließlich das Gewicht der in Rede stehenden Vertragspflichtverletzung, die für sich schon die Basis für eine weitere Zusammenarbeit irreparabel entfallen lässt. Dieses bemisst sich gerade unabhängig von einer Wiederholungsgefahr. Die Schwere einer Pflichtverletzung kann zwar nur anhand der sie beeinflussenden Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, diese müssen aber die Pflichtwidrigkeit selbst oder die Umstände ihrer Begehung betreffen. Dazu gehören etwa ihre Art und ihr Ausmaß, ihre Folgen, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers sowie die Situation bzw. das „Klima“, in der bzw. in dem sie sich ereignete. Sonstige Umstände, die Gegenstand der weiteren Interessenabwägung sein können, wie etwa ein bislang unbelastetes Arbeitsverhältnis, haben bei der Prüfung der Schwere der Pflichtverletzung außer Betracht zu bleiben. Dies gilt umgekehrt ebenso für ein nachfolgendes wahrheitswidriges Bestreiten, das für sich genommen ebenfalls nichts über die Schwere der begangenen Pflichtverletzung besagt.
Rz. 28
bb) Bei der Prüfung der Entbehrlichkeit einer Abmahnung hat das Landesarbeitsgericht in Bezug auf die beiden Folgekündigungen ohne Rechtsfehler angenommen, eine Wiederholungsgefahr könne nach einer Abmahnung ausgeschlossen werden. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (BAG 27. Februar 2020 - 2 AZR 570/19 - Rn. 23, BAGE 170, 84; 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 30; 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - Rn. 28, BAGE 159, 267). Selbst wenn die vom Kläger gezeigte Reue auf der Sorge um seinen Arbeitsplatz beruht haben sollte, wie das Berufungsgericht vermutet hat, spräche dies dafür, dass er ihn nicht durch eine Wiederholung seines Verhaltens erneut aufs Spiel setzen würde. Die Würdigung genügte auch dem Maßstab des § 12 Abs. 3 AGG, wonach die Maßnahme des Arbeitgebers als Reaktion auf eine sexuelle Belästigung gewährleisten muss, dass diese für die Zukunft unterbunden wird. War nicht von einer Wiederholungsgefahr auszugehen, ist diesem Erfordernis genügt.
Rz. 29
cc) Hingegen hat das Landesarbeitsgericht auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen rechtsfehlerhaft das Vorliegen einer schweren Pflichtverletzung, die zur Entbehrlichkeit einer Abmahnung führte, verneint. Es hat maßgeblich auf die Erstmaligkeit der Störung des Arbeitsverhältnisses abgestellt. Dies ist jedoch kein Gesichtspunkt, der die Schwere der konkreten, wenn auch erstmaligen, Pflichtverletzung beeinflusst. Auf diesem Rechtsfehler beruht die Würdigung. Das Berufungsgericht hat im Übrigen nur die Schwere der Pflichtverletzung hervorhebende Umstände benannt und vorangegangenen „Neckereien“ zwischen dem Kläger und dem Leiharbeitnehmer „nur geringste Bedeutung“ beigemessen. Auf der Basis der bisherigen Feststellungen lässt sich auch nicht beurteilen, mit welchem Grad des Verschuldens der Kläger gehandelt hat. Das Berufungsgericht hat zwar angenommen, der Kläger habe „bewusst“ Ehre und Würde des Kollegen verletzt. Es ist aber nicht festgestellt, dass der Wille des Klägers auch auf die Entblößung der Genitalien des Mitarbeiters gerichtet war. Ebenfalls an Feststellungen fehlt es zur von der Beklagten behaupteten Schadensgeneigtheit der Tätigkeit am sog. Ritzpräger, die eine besondere Konzentration erfordere, in der der Leiharbeitnehmer durch den Angriff des Klägers gestört worden sei.
Rz. 30
d) Der Senat kann auch nicht entscheiden, ob die Beklagte mit der Kündigung vom 21. Mai 2019 die Kündigungserklärungsfrist gem. § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB gewahrt hat. Es ist bislang nicht festgestellt, wann eine für die Beklagte kündigungsberechtigte Person iSv. § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte.
Rz. 31
2. Über die vom Kläger geltend gemachte Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG kann der Senat ebenfalls nicht selbst befinden. Das Landesarbeitsgericht hat zum Inhalt und zeitlichen Verlauf der Betriebsratsanhörung keine Feststellungen getroffen.
Rz. 32
3. Auf andere Unwirksamkeitsgründe hat sich der Kläger ausweislich des Berufungsurteils nicht berufen.
Rz. 33
III. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Kündigung vom 21. Mai 2019 unterliegt damit der Aufhebung und Zurückverweisung (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut über die Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 174 Satz 1 BGB - sofern der Kläger diese rechtzeitig gem. § 4 Satz 1, § 6 Satz 1 KSchG geltend gemacht hat - und ggf. nach § 626 BGB und § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG zu befinden haben.
Rz. 34
1. Im Hinblick auf § 174 Satz 1 BGB wären Feststellungen dazu zu treffen, ob der Beklagten das Zurückweisungsschreiben des Klägers vom 23. Mai 2019 unverzüglich zugegangen ist und ob die Beklagte den Kläger vor Zugang der Kündigung iSv. § 174 Satz 2 BGB über die Stellung des „Leiters Personal“ in Kenntnis gesetzt hatte.
Rz. 35
2. Bei der Prüfung des wichtigen Grundes iSv. § 626 Abs. 1 BGB sind ergänzende Feststellungen zur Schwere der Pflichtverletzung und damit der Entbehrlichkeit einer Abmahnung zu treffen, insbesondere ob der Kläger den Leiharbeitnehmer iSv. § 3 Abs. 4 AGG sexuell belästigte, indem sich seine Intention darauf richtete, ihm nicht nur die Arbeitshose, sondern auch die Unterhose herunterzuziehen. Sollte das nicht der Fall gewesen sein, könnte es zwar an einer sexuellen Belästigung gefehlt haben. Das Verhalten des Klägers stellte aber dennoch jedenfalls einen erheblichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Leiharbeitnehmers dar. Relevant für die Schwere der Pflichtverletzung wäre insofern insbesondere der Grad des Verschuldens des Klägers an der vollständigen Entblößung des Leiharbeitnehmers. Im Übrigen von Bedeutung für die Schwere der Pflichtverletzung sind vor allem ihre unmittelbaren oder für die Zukunft zu prognostizierenden Folgen für das Opfer des Übergriffs sowie für die Arbeitsabläufe und die respektvolle Zusammenarbeit der Beschäftigten, einschließlich der Leiharbeitnehmer. Die Schwere der Pflichtverletzung des Klägers mindernd könnten bislang nicht näher festgestellte vorhergegangene Übergriffe des Leiharbeitnehmers selbst sein, wobei diese wiederum in ihrer Schwere im Verhältnis zum Verhalten des Klägers zu betrachten wären.
Rz. 36
3. Von weiteren Hinweisen sieht der Senat angesichts des bislang nur beschränkt festgestellten Sachverhalts ab.
Rz. 37
IV. Der Aufhebung und Zurückverweisung unterliegen auch die Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts über die weiteren Kündigungsschutzanträge und den Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung.
Rz. 38
1. Die auf die Folgekündigungen bezogenen Kündigungsschutzanträge fallen nur zur Entscheidung an, wenn das Arbeitsverhältnis nicht bereits durch die zuvor zugegangene(n) fristlose(n) Kündigung(en) aufgelöst ist. Sie sind dahin zu verstehen, dass sie auflösend bedingt für den Fall gestellt sind, dass der Kündigungsschutzantrag gegen die zuvor zugegangene(n) fristlose(n) Kündigung(en) ohne Erfolg bleibt.
Rz. 39
2. Über den Weiterbeschäftigungsantrag als weiterem unechten Hilfsantrag ist nur für den Fall des Obsiegens des Klägers mit sämtlichen Kündigungsschutzanträgen zu entscheiden.
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Koch |
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Niemann |
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Rachor |
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K. Schierle |
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Klein |
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Fundstellen
Haufe-Index 14686030 |
BAGE 2023, 94 |
DB 2021, 2225 |