Leitsatz (amtlich)
1. Das Revisionsgericht kann nachprüfen, ob der Tatsachenrichter bei der Auslegung einer privaten nichttypischen Willenserklärung die Vorschriften des materiellen Rechts beachtet hat.
2. Bei der Auslegung einer Willenserklärung sind alle Begleitumstände zu würdigen, die für die Frage, welchen Willen der Beteiligte bei seiner Erklärung gehabt hat, von Bedeutung sind.
3. Die zur Auslegung einer Willenserklärung erforderliche Ermittlung der Begleitumstände sowie des inneren Willens der Beteiligten ist eine tatrichterliche Aufgabe (Bestätigung von BAG AP Nr. 30 zu § 133 BGB).
4. Derjenige, der ein Schriftstück unterschreibt, ohne es gelesen zu haben und ohne von seinem Inhalt eine bestimmte Vorstellung zu haben, ist zur Irrtumsanfechtung nicht berechtigt. Etwas anderes gilt jedoch, wenn jemand sich von dem Inhalt eines Schriftstücks, das er ungelesen unterschreibt, eine unrichtige Vorstellung macht.
Normenkette
BGB §§ 116, 119, 133, 615 S. 2; KSchG § 1
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Urteil vom 16.10.1969; Aktenzeichen 7 Sa 368/69) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 16. Oktober 1969 – 7 Sa 368/69 – aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger der verheirat ist und zwei minderjährige Kinder hat, war seit Anfang Juli 1968 bei der Beklagten, die mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigt, als Lagerarbeiter zu einem Stundenlohn von zuletzt 4,70 DM tätig. Am 13. Februar 1969 kündigte ihm die Beklagte zum 28. Februar 1969 zunächst mündlich durch ihren Betriebsleiter und sodann noch einmal schriftlich, jeweils ohne Angabe von Gründen. Nachdem der Kläger am 21. Februar 1969 Klage erhoben hatte mit dem Antrage festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 13. Februar 1969 nicht aufgelöst ist, bat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers die Beklagte den Kläger auch über den 28. Februar 1969 hinaus bis zur gerichtlichen Entscheidung weiterzubeschäftigen. Das lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 24. Februar 1969 ab und ließ – ebenfalls anwaltlich vertreten – durch Schriftsatz vom 4. März 1969 den Antrag ankündigen, die Klage abzuweisen.
Am 5. März 1969 begab sich der Kläger in die Geschäftsräume der Beklagten, um seine Arbeitspapiere abzuholen. Er erhielt die Arbeitspapiere und ein auf den 28. Februar 1969 datiertes Schreiben zur Unterschrift vorgelegt, das folgenden Wortlaut hat:
„Sehr geehrter Herr R.!
Da mit dem heutigen Tage das Arbeitsverhältnis zwischen Ihnen und uns erer Firma endet, überreichen wir Ihnen in der Anlage folgende Unterlagen:
Lohnsteuerkarte 1969, Nr. 219
Rentenversicherungskarte Nr. 11
Urlaubsbescheinigung
Endabrechnung Februar 1969 über DM 236,98 mit beigefügtem Lohnstreifen, sowie die Fahrgelderstattung für Februar mit DM 15,–. Weitere Rechtsansprüche oder Forderungen bestehen darüber hinaus von beiden Seiten nicht mehr.
gez. R. |
gez. Unterschriften |
Fr. R. |
D. GmbH, Düsseldorf” |
Die Beklagte will aus der Unterschrift des Klägers herleiten, daß er auf alle weiteren Ansprüche, auch auf die Verfolgung des Kündigungsschutzprozesses, verzichtet habe. Der Kläger hat seine Erklärung, falls sie so, wie es die Beklagte erstrebt, auszulegen sei, angefochten und hierzu vorgetragen, er habe seine Papiere nur deshalb abgeholt, weil er, von seinem Prozeßbevollmächtigten über seine Pflicht, die Verwertung seiner Arbeitskraft nicht böswillig zu unterlassen, belehrt, sich um andere Arbeit habe bemühen wollen; als er eine aushilfstätigkeit gefunden habe, habe er für diese seine Papiere benötigt.
Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben über die Behauptungen der Beklagten, der Kläger habe den Betriebsfrieden gestört, indem er den Betriebsleiter mit einem SS-Mann, der in ein KZ gehöre, verglichen und den an der automatischen Profilieranlage tätigen Maschinisten wiederholt zur Verlangsamung des Vorlaufs dieser Maschine aufgefordert habe. Das Arbeitsgericht hat sodann der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen, und zwar mit der Begründung, daß der Kläger durch seine Unterschrift unter der Ausgleichsquittung auf alle weiteren Ansprüche und auch auf die Durchführung des Kündigungsschutzprozesses verzichtet habe; die vom Kläger vorsorglich erklärte Anfechtung greife nicht durch.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
1. Das Landesarbeitsgericht legt das mit Datum vom 28. Februar 1969 versehene, vom Kläger am 5. März 1969 unterschriebene Schriftstück dahin aus, daß der Kläger durch seine Unterschrift nicht nur über den Erhalt von Restlohn und Arbeitspapieren quittiert, sondern auch auf alle weiteren Rechte aus dem Arbeitsverhältnis, insbesondere auf Durchführung der Kündigungsschutzklage, verzichtet habe. Mit Recht führt die Revision aus, daß diese Auslegung nicht haltbar ist.
a) Das Schriftstück vom 28. Februar/5. März 1969 ist allerdings keine typische Willenserklärung. Deshalb ist das Revisionsgericht in der Nachprüfung, ob die Auslegung der Erklärung durch den Tatsachenrichter zutrifft, nicht frei. Nachprüfbar ist aber in jedem Fall, ob der Tatsachenrichter bei der Auslegung einer privaten nichttypischen Willenserklärung die Vorschriften des materiellen Rechts beachtet hat. Das ist im Streitfall nicht geschehen.
Nach § 133 BGB muß das Gericht bei der Auslegung einer Willenserklärung den wirklichen Willen erforschen. Das bedeutet, daß nicht nur auf den Wortlaut abzustellen ist, sondern alle Begleitumstände zu würdigen sind, die für die Frage, welchen Willen der Beteiligte bei seiner Erklärung gehabt hat, von Bedeutung sind. Fehlt es an einer solchen Würdigung, so kann die vom Tatsachenrichter vorgenommene Auslegung keinen Bestand haben (BAG AP Nr. 2 zu § 133 BGB).
b) Der Kläger hatte in den Tatsacheninstanzen im einzelnen vorgetragen, wie es zu seiner Unterschrift unter dem Schriftstück vom 28. Februar/5. März 1969 gekommen ist. Danach will er nach einer Besprechung mit seinem Prozeßbevollmächtigten die Geschäftsräume der Beklagten nur zu dem Zweck aufgesucht haben, um seine Arbeitspapiere abzuholen. Diese brauchte er, wie der Kläger weiter vorgetragen hat, um in der Zeit bis zum Abschluß des Kündigungsschutzprozesses eine andere Arbeit anzunehmen, damit er – wie ihm sein Prozeßbevollmächtigter nach seiner Darstellung erklärt hatte – einem etwaigen späteren Einwand der Beklagten gemäß § 615 Satz 2 BGB mit Erfolg begegnen konnte. Den Willen, das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu beenden, will der Kläger bei Leistung seiner Unterschrift nicht gehabt haben.
Von Bedeutung dafür, welchen Willen der Kläger gehabt hat, als er das Schriftstück, das das Datum vom 28. Februar 1969 trägt, fünf Tage später unterschrieb, ist ferner der Umstand, daß zur damaligen Zeit der Arbeitsgerichtsprozeß bereits lief. Eine Erklärung darüber, wie dieser Prozeß beendet werden sollte, hat der Kläger unstreitig nicht abgegeben. Daß er sich, dazu noch ohne Beisein seines Prozeßbevollmächtigten, durch seine Unterschrift zur Zurücknahme der Klage verpflichten wollte, läßt der Inhalt des Schriftstücks vom 28. Februar/5. März 1969 nicht erkennen. Daß er eine solche Verpflichtung mündlich übernommen hätte, stellt das Landesarbeitsgericht nicht fest. Es befaßt sich überhaupt nicht mit den für die Auslegung bedeutsamen Umständen, wie sie vorstehend wiedergegeben sind, und mit dem eingehenden Vortrag des Klägers zu der Frage, wie es zur Unterzeichnung des Schriftstückes vom 28. Februar/5. März 1969 durch ihn gekommenist (vgl. hierzu S. 5 f. des Schriftsatzes vom 5. Mai 1969, Bl. 23 f. Vorakten). Darin liegt ein Verstoß des Landesarbeitsgerichts gegen anerkannte Auslegungsregeln, nämlich gegen die Vorschrift, daß der gesamte zur Verfügung stehende Auslegungsstoff zu verwerten ist.
c) Wegen des vorerwähnten Verstoßes gegen § 133 BGB muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Der Senat ist jedoch nicht in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden. Zu den Vorgängen, die zur Unterzeichnung des Schriftstückes vom 28. Februar/5. März 1969 geführt haben, hat das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen getroffen. Auch ist die zur Auslegung einer Willenserklärung erforderliche Feststellung der Begleitumstände sowie des inneren Willens der Beteiligten eine tatrichterliche Aufgabe (SAG AP Nr. 30 zu § 133 BGB). Damit das Landesarbeitsgericht diese seine Aufgabe erfüllen kann, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
2. a) Das Landesarbeitsgericht wird unter Berücksichtigung des gesamten vorgetragenen und feststellbaren Auslegungsstoffs den Willen, den der Kläger bei Leistung seiner Unterschrift am 5. März 1969 gehabt hat, zu ermitteln haben. Kommt es, wofür angesichts der oben erörterten Umstände viel spricht, zu dem Ergebnis, der Kläger habe nicht den Willen gehabt, aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten auszuscheiden, so wird es berücksichtigen müssen, daß die vom Kläger geleistete Unterschrift der Annahme, er habe nur über den Empfang des Restlohns und der Arbeitspapiere quittieren wollen, nicht entgegensteht. Es liegt weder ein unbeachtlicher geheimer Vorbehalt (§ 116 BGB) vor, noch handelt es sich um einen Fall, wie er in BAG AP Nr. 6 zu § 550 ZPO entschieden ist. Auch das, was der erkennende Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 25. September 1969, 2 AZR 524/68, ausgesprochen hat, kann auf den Streitfall keine Anwendung finden.
Im vorgenannten Urteil des erkennenden Senats handelte es sich um eine eigene Erklärung des Arbeitnehmers, Hier dagegen geht es um ein Schreiben der Beklagten an den Kläger, das dieser lediglich mit unterschrieben hat. Dabei fehlt es bei der Unterschrift des Klägers an jedem Zusatz, aus dem hervorgeht, daß er mit dem Inhalt des Schreibens einverstanden ist. Auch ist keine Unterscheidung getroffen zwischen den Rechten aus dem Arbeitsverhältnis und den Ansprüchen aus Anlaß der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wie es in 2 AZR 524/68 der Fall gewesen war. Vom Wortlaut her kann die Erklärung des Klägers vielmehr ohne weiteres dahin ausgelegt werden, daß es sich lediglich um eine Quittung über den Empfang von Restlohn und Arbeitspapieren handeln sollte. Jedenfalls hat eine solche Erklärung einen – wenn vielleicht auch unvollkommenen – Ausdruck in dem Schriftstück vom 28. Februar/5. März 1969 gefunden.
b) Wenn das Landesarbeitsgericht bei der nunmehrigen Auslegung der Willenserklärung des Klägers wiederum zu der Auffassung kommen sollte, wie sie im angefochtenen Urteil vertreten ist, wird es der Anfechtung der Erklärung des Klägers erneut nachgehen müssen. Die Ansicht, die das Landesarbeitsgericht hinsichtlich der Anfechtung im angefochtenen Urteil vertreten hat, ist mit dem Vortrag des Klägers und den Rechtsgrundsätzen über die Anfechtung von Willenserklärungen nach § 119 BGB nicht vereinbar.
Es trifft nicht zu, daß der Kläger, wie im angefochtenen Urteil angenommen wird, hinsichtlich der Anfechtung seiner Willenserklärung lediglich vorgetragen hätte, er habe diese ungelesen unterschrieben, ohne sich von ihrem Inhalt eine Vorstellung zu machen. Vielmehr hat er darauf hingewiesen, daß er die Unterschrift geleistet habe in der Annahme, es handele sich nur um eine Quittung über den Empfang des Restlohns und der Arbeitspapiere (siehe Schriftsatz vom 5. Mai 1969 S. 6, Bl. 24 Vorakten). Trifft das zu, wozu das Landesarbeitsgericht notfalls noch die erforderlichen Feststellungen wird treffen müssen, so ist die Anfechtung schlüssig erklärt.
Zwar ist es richtig, daß derjenige nicht anfechten kann, der ein Schriftstück unterschreibt, ohne es gelesen zu haben und ohne von seinem Inhalt eine bestimmte Vorstellung zu haben. Anders ist es jedoch, wenn jemand sich von dem Inhalt eines Schriftstücks, das er ungelesen unterschreibt, eine bestimmte, allerdings unrichtige Vorstellung macht. In diesem Fall ist er nach der übereinstimmenden Ansicht von Rechtsprechung und Rechtslehre, der sich der erkennende Senat anschließt, zur Anfechtung berechtigt (vgl. zur Rechtsprechung BGH BB 56, 254; RArbG JW 30, 2729 [2730 f.] mit zustimmender Anmerkung von Nipperdey; RGZ 62, 201 [205]; 77, 309 [312]; 88, 278 [282 f.]; zur Rechtslehre: folgende Kommentare zum BGB § 119: Soergel-Siebert, 10. Aufl., Anm. 7; RGRK, 11. Aufl., Anm. 13 mit Nachweisen; Staudinger, 11. Aufl., Anm. 48 mit Nachweisen; Erman, 4. Aufl., Anm. 3 mit Nachweisen; Palandt, 29. Aufl., Anm. 2 b). Um einen solchen Fall aber handelt es sich nach den Behauptungen des Klägers hier.
c) Kommt das Landesarbeitsgericht bei seiner erneuten Prüfung des Falles zu der Auffassung, daß die Unterschrift des Klägers unter dem Schriftstück vom 28. Februar/5. März 1969 der Weiterverfolgung der Klage nicht entgegensteht, wird es die Frage der sozialen Rechtfertigung der hier streitigen Kündigung zu erörtern haben.
Unterschriften
gez. Dr. König, Dr. Thomas, Wichmann, Wirtz, Neumann
Fundstellen
Haufe-Index 1454389 |
BAGE, 424 |
NJW 1971, 639 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 1971, 248 |