Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Hessen |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. März 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung sowie die Rückforderung von Übergangsgeld (Übg). Umstritten ist dabei vornehmlich, wann die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) beginnt.
Der 1941 geborene Kläger, der damals in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis als Lagerist bei der Speditionsfirma W. GmbH & Co, W.-L., stand, unterzog sich wegen einer Alkoholerkrankung vom 10. April 1990 bis 9. Oktober 1990 einem von der Beklagten bewilligten Heilverfahren in der Fachklinik H. Mit Bescheid vom 14. Mai 1990 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 10. April 1990 Übg in Höhe von kalendertäglich 84,– DM. Dabei ging sie von einer vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden, erhöht um durchschnittlich 40,37 Überstunden pro Woche, insgesamt also von 80,37 regelmäßigen Wochenarbeitsstunden aus. Für diese Berechnung lagen ihr folgende Schriftstücke vor:
- Die Fotokopie einer Verdienstbescheinigung der Firma W. vom 7. März 1990 zur Berechnung von Krankengeld. Darin wird die Frage 3.2. nach einer vereinbarten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit verneint; unter Punkt 3.3. sind die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden der letzten drei Monate (Dezember 1989: 177,00, November 1989: 179,75, Oktober 1989: 168,00) eingetragen.
- Die Fotokopie eines Arbeitsblattes der Krankenkasse zur Berechnung von Krankengeld bei nach Stunden bemessenem Arbeitsentgelt. Danach sind als regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Klägers 40,37 Stunden zugrunde gelegt worden.
- Eine an die Beklagte gerichtete Verdienstbescheinigung („zur Berechnung von Übergangsgeld”) der Firma W. vom 18. April 1990. Diese enthält zu Punkt 3.2. („Vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit/Reha-Maßnahme vereinbarte regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … Stunden”) den – durchgestrichenen -Eintrag „40,00”. An dieser Stelle findet sich noch die vorgedruckte Anweisung „Wenn keine regelmäßige Arbeitszeit vereinbart wurde, bitte unter 3.3. anstelle der Mehrarbeitsstunden die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden eintragen”. Unter 3.3. sind dann für Dezember 1989 177,00, für November 1989 179,75 und für Oktober 1989 168,00 Stunden angegeben, wobei im Text des Vordrucks bei „bezahlte Mehrarbeitsstd.” der Wortteil „Mehrarbeits” durchgestrichen ist.
Aufgrund einer Prüfungsbemerkung ihres Rechnungsprüfungsamtes vom 15. März 1991 nahm die Beklagte eine Neuberechnung vor und teilte der zuständigen Krankenkasse unter dem 5. April 1991 mit, daß das Übg des Klägers – ausgehend von einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden – kalendertäglich 41,81 DM betrage. Mit Schreiben vom 10. Oktober 1991 hörte die Beklagte den Kläger zu einer beabsichtigten Rückforderung von überzahltem Übg in Höhe von 7.594,20 DM an. Dazu führte sie aus: Das Übg habe ihm nicht in voller Höhe zugestanden, da nicht die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden für die Berechnung herangezogen worden sei, sondern irrtümlich die Gesamtarbeitsstunden von Oktober bis Dezember 1989 zugrunde gelegt worden seien. Hierzu wies der Kläger mit Schreiben vom 18. Oktober 1991, bei der Beklagten eingegangen am 24. Oktober 1991, ua darauf hin, daß er zu keiner Zeit mit seiner Firma eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit vereinbart habe. Jeden Monat seien Überstunden geleistet worden. Als Beleg fügte er Ablichtungen von Verdienstbescheinigungen seiner Arbeitgeberin für die Krankenkasse vom 25. Januar 1990 und 7. März 1990 bei. Mit Bescheid vom 29. Oktober 1991 teilte die Beklagte dem Kläger daraufhin mit, daß sein Übg-Anspruch für die Zeit von 10. April 1990 bis 9. Oktober 1990 kalendertäglich 42,20 DM betrage. Die bereits geleisteten Zahlungen in Höhe von 15.120,– DM würden angerechnet. Unter dem 31. Oktober 1991 hörte die Beklagte den Kläger erneut an. Diesmal errechnete sie – ausgehend von einem zustehenden Übg in Höhe von insgesamt 7.596,– DM (180 × 42,20 DM) – eine Überzahlung von 7.524,– DM. Das tatsächlich gezahlte Übg (in Höhe von kalendertäglich 84,– DM) habe dem Kläger nicht zugestanden, weil die Gesamtarbeitsstunden der Monate Oktober bis Dezember 1989 bei der Übg-Berechnung versehentlich wie Überstunden berücksichtigt worden seien.
Durch Bescheid vom 5. Februar 1992 forderte die Beklagte vom Kläger „gemäß § 50 Abs 2 iVm § 45 … SGB X” 7.524,– DM zu Unrecht gezahltes Übg zurück. Auf Widerspruch des Klägers nahm die Beklagte mit Bescheid vom 30. September 1992 sowohl den angefochtenen Bescheid vom 5. Februar 1992 als auch den Übg-Bewilligungsbescheid vom 14. Mai 1990 zurück (letzteren gemäß § 45 SGB X). Ferner stellte sie eine Erstattungspflicht des Klägers nach § 50 Abs 1 SGB X in Höhe von 7.524,– DM fest.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid der Widerspruchsstelle der Beklagten vom 17. Februar 1993) erhob der Kläger beim Sozialgericht Darmstadt (SG) Klage. Durch Urteil dieses Gerichts vom 28. Juli 1993 wurden die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 11. März 1994 zurückgewiesen. Diese Entscheidung ist im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt worden:
Vorliegend gebiete allein die Nichteinhaltung der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X die Aufhebung des Rücknahmebescheides. Die Beklagte habe spätestens am 5. April 1991 die nach dieser Vorschrift erforderliche Kenntnis von den die Rücknahme des Übg-Bescheides rechtfertigenden Tatsachen gehabt. Zu diesem Zeitpunkt habe sie von den konkreten Umständen gewußt, die zu der rechtswidrig wesentlich zu hohen Festsetzung und Zahlung des Übg geführt hätten, und damit auch von der hieraus abgeleiteten und in den angefochtenen Bescheiden geltend gemachten zumindest grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Übg-Bescheides auf seiten des Klägers. Gleichwohl habe sie diesen Bescheid erst nach Ablauf eines Jahres durch den angegriffenen Bescheid vom 30. September 1992 aufgehoben.
Die Jahresfrist habe als absolute Ausschlußfrist eine für die Behörde disziplinierende und edukatorische Funktion. Diese habe die Entscheidung über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte für die Vergangenheit im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zügig zu treffen. Diese Funktion könne diese Regelung nur dann erfüllen, wenn sie als Frist für die Bearbeitung und Entscheidung verstanden werde, mithin die Verpflichtung der Behörde umfasse, innerhalb dieser Frist die Anhörung durchzuführen und sich erforderlichenfalls auch die Kenntnis von weiteren für die Ausübung ihres Ermessens erforderlichen Tatsachen zu verschaffen. Dies sei den Sozialversicherungsträgern auch ohne weiteres möglich, insbesondere durch Fristsetzungen in den Anhörungsschreiben.
Die erforderliche Kenntnis habe auch die für die Angelegenheit zuständige Behörde gehabt. Dies sei nach der Legaldefinition des § 1 Abs 2 SGB X die innerhalb der Organisation der Beklagten nach deren Geschäftsverteilung zur Aufhebung berufene Stelle. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) (Hinweis auf BSGE 60, 239 = SozR 1300 § 45 Nr 26) sei hiermit nach dem dargelegten Sinn und Zweck der Jahresfrist als Bearbeitungsfrist nicht nur der allein zur Unterzeichnung von Anhörungsschreiben zuständige Abteilungsreferent zu zählen, sondern auch der für die Aktenbearbeitung und die zur Vorbereitung des Rücknahmeverfahrens zuständige Sachbearbeiter.
Nachdem damit das tatsächlich gezahlte Übg seine rechtliche Grundlage in dem Bewilligungsbescheid vom 14. Mai 1990 behalten habe, seien die angefochtenen Bescheide auch hinsichtlich der ausgesprochenen Verpflichtung des Klägers zur Erstattung des Übg-Betrages aufzuheben.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend:
Das LSG habe den Regelungsinhalt des § 45 Abs 4 SGB X verkannt. Die Jahresfrist könne erst dann zu laufen beginnen, wenn die Behörde auch Kenntnis von all den Umständen habe, welche für die Ermessensausübung wesentlich seien. Auch sonst lasse sich eine sachgerechte Entscheidung nur dann fällen, wenn der Betroffene die Gelegenheit erhalten habe, seine Ansicht und damit uU auch bisher nicht bekannte Tatsachen vorzutragen. Hieraus folge, daß sie erst Kenntnis aller für die Entscheidung wesentlichen Umstände gehabt haben könne, nachdem die Anhörung des Klägers durchgeführt worden sei. Entgegen der Auffassung des LSG spreche hiergegen auch nicht, daß die Anhörung vorliegend für das Ergebnis der Rücknahmeentscheidung nicht mehr relevant gewesen sei; denn ob eine Anhörung für die Entscheidung einer Behörde relevant sei oder nicht, lasse sich im Voraus nicht beurteilen.
Rechtsirrig gehe das LSG davon aus, daß es sich bei der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X um eine Bearbeitungsfrist handele. Die Jahresfrist habe den Zweck, daß die Behörde die infolge der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nötige Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsaktes binnen Jahresfrist treffe und dadurch sicherstelle, daß mit Ablauf dieser Frist der Rücknahmefall rechtmäßig abgeschlossen sei. Dieser Zweck könne jedoch dann nicht erreicht werden, wenn die Behörde gezwungen sei, innerhalb eines Jahres nach Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und ohne Kenntnis der weiteren Umstände, dh uU vor Eintritt der Entscheidungsreife, eine abschließende Entscheidung zu treffen, die sich im Nachhinein als falsch erweisen könne.
Weiterhin könne der Auffassung des LSG auch darin nicht gefolgt werden, daß für die Kenntnis der Behörde iS von § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X nicht die Kenntnis des zuständigen Referenten erforderlich sei, sondern bereits die Kenntnis des jeweiligen Sachbearbeiters ausreiche. Nach ihren Richtlinien über das Verfahren bei Leistungsüberzahlungen sei für die Feststellung von Erstattungsansprüchen wegen überzahlter Sozialleistungen der Referent zuständig. Demnach habe nur dieser und nicht der Sachbearbeiter die Kompetenz, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen. Der hier zuständige Referent habe von dem Vorgang erstmals anläßlich der Vorlage des Anhörungsschreibens vom 10. Oktober 1991 Kenntnis erlangt. Auch aus diesem Grunde könne die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X frühestens ab diesem Zeitpunkt zu laufen beginnen, womit auch der Rücknahmebescheid vom 30. September 1992 fristgerecht erteilt worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Juli 1993 sowie das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. März 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, da dessen Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung nicht ausreichen. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung ist insbesondere zur Frage eines Vertrauensschutzes des Klägers sowie zu den Gesichtspunkten der Ermessensabwägung erforderlich.
Durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 30. September 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 1993 ist der Übg-Bewilligungsbescheid vom 14. Mai 1990 in vollem Umfang zurückgenommen und eine Erstattungspflicht des Klägers in Höhe von 7.524,– DM festgestellt worden. Soweit die Rücknahme eine Bewilligung von Übg in Höhe von kalendertäglich 42,20 DM betrifft, handelt es sich der Sache nach nur um die feststellende Regelung, daß der neue Bewilligungsbescheid vom 29. Oktober 1991 an die Stelle des alten getreten ist. Dies wird auch durch den Hinweis in der Begründung des Bescheides vom 30. September 1992 deutlich, daß die berichtigte Übg-Berechnung dem dem Kläger bereits zugegangenen Bescheid vom 29. Oktober 1991 zu entnehmen sei. Wenn – wie hier – aus verwaltungstechnischen Gründen ein Bewilligungsbescheid durch einen neuen ersetzt wird, kann er grundsätzlich als auf andere Weise erledigt angesehen werden (vgl § 39 Abs 2 SGB X). In diesem Umfang ist der angefochtene Verwaltungsakt somit nicht zu beanstanden.
Im übrigen kommen hier – wie die Beklagte und die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben – als Ermächtigungsgrundlagen allein die §§ 45, 50 Abs 1 SGB X in Betracht, wobei § 45 SGB X die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes (hier eines Teiles des Übg-Bewilligungsbescheides vom 14. Mai 1990) und § 50 Abs 1 SGB X die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen (hier des überzahlten Übg) betreffen.
§ 45 Abs 1 SGB X enthält folgende Regelung: Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Da es sich hier um eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit handelt, ist vor allem § 45 Abs 4 SGB X einschlägig. Die Behörde muß einen entsprechenden Bescheid innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erlassen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (vgl § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X). Dazu verweist § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X auf die Anforderungen in Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 dieser Vorschrift.
Das LSG hat seine Entscheidung, daß die angefochtenen Bescheide aufzuheben seien, allein darauf gestützt, daß die Beklagte die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X nicht eingehalten habe. Dem vermag der erkennende Senat nicht zu folgen. Er ist der Auffassung, daß die Rücknahme der Übg-Bewilligung mit Bescheid vom 30. September 1992 noch rechtzeitig erfolgt ist, da die Beklagte nicht vor dem Eingang der Antwort des Klägers auf ihr Anhörungsschreiben am 24. Oktober 1991 die von § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X vorausgesetzte Tatsachenkenntnis hatte.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist das LSG allerdings zutreffend davon ausgegangen, daß „Behörde” iS des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X nicht erst der für die Feststellung von Erstattungsansprüchen zuständige Referent, sondern schon der mit der Vorbereitung einer entsprechenden Entscheidung betraute Sachbearbeiter ist. Dieser gehört iS der Legaldefinition des § 1 Abs 2 SGB X innerhalb der Organisation der Beklagten zu der Stelle, welche die hier relevanten Aufgaben der öffentlichen Verwaltung (Vorbereitung und Erlaß des angefochtenen Verwaltungsaktes iS von § 8 SGB X) wahrgenommen hat (vgl BSGE 63, 224, 228 f = SozR 1300 § 48 Nr 47). Der erkennende Senat sieht in dieser Hinsicht auch keine Abweichung zu der Entscheidung des 11a Senats des BSG vom 9. September 1986 (BSGE 60, 239 = SozR 1300 § 45 Nr 26). Soweit dieser Senat kurz bemerkt hat, für die Kenntnis der Beklagten seien die Kenntnisse maßgebend, die der oder die für die zu treffenden Entscheidungen zuständige(n) Sachbearbeiter der Beklagten gehabt hätten (vgl BSGE 60, 239, 241 = SozR 1300 § 45 Nr 26 S 85), liegt darin keine eindeutige Aussage, daß damit nur die Bediensteten gemeint seien, welche letztendlich befugt sind, die eigentliche Rücknahmeentscheidung selbst zu treffen. Dies folgt insbesondere aus dem vom 11a Senat beigefügten Zitat. Der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), auf dessen Beschluß vom 19. Dezember 1984 (BVerwGE 70, 356 = NJW 1985, 819) dabei hingewiesen wird, hat nämlich an der betreffenden Stelle (BVerwGE aaO S 364) ausgeführt, die Behörde erlange die erforderliche Kenntnis, wenn der nach der innerbehördlichen Geschäftsverteilung zur Rücknahme des Verwaltungsaktes berufene Amtswalter oder ein sonst innerbehördlich zur rechtlichen Überprüfung des Verwaltungsaktes berufener Amtswalter die die Rücknahme des Verwaltungsaktes rechtfertigenden Tatsachen feststelle. Zur rechtlichen Überprüfung der ursprünglichen Übg-Bewilligung waren hier auch die ab April 1991 mit der Neuberechnung des Übg und der Vorbereitung des Anhörungsschreibens befaßten Sachbearbeiter berufen. Diese können daher als im weiteren Sinne für die zu treffende Rücknahmeentscheidung zuständig angesehen werden.
Wenn das Gesetz auf die Kenntnis der Tatsachen abstellt, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, so ist dieses Tatbestandsmerkmal weder allein aus der (subjektiven) Sicht der Behörde noch allein mittels einer objektiven Betrachtungsweise zu beurteilen. In dem einen Fall hätte es die Behörde in der Hand, den Eintritt der erforderlichen Kenntnis durch Aufrechterhalten unbegründeter Zweifel beliebig hinauszuzögern, in dem anderen Fall würde die Jahresfrist immer dann nicht zu laufen beginnen, wenn es die Behörde aufgrund einer irrtümlichen Einschätzung der Sach- oder Rechtslage unterläßt, sich Kenntnis von Tatsachen zu verschaffen, welche die Rücknahmeentscheidung erst rechtfertigen können. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erscheint es sachgerecht, sowohl hinsichtlich der ausreichenden Gewißheit als auch hinsichtlich Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde abzustellen, es sei denn, es liegt bereits zu einem früheren Zeitpunkt bei objektiver Betrachtung eine sichere Kenntnis der Behörde von allen erforderlichen Tatsachen vor (vgl dazu BSGE 74, 20, 26 f = SozR 3-1300 § 48 Nr 32; BSG SozR 4100 § 103 Nr 42 S 104 f).
Nach der Rechtsprechung des BSG hat sich die Kenntnis iS von § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X sowohl auf diejenigen Tatsachen zu erstrecken, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Verwaltungsaktes ergibt, als auch auf die, welche in § 45 Abs 2 Satz 3 oder Abs 3 Satz 2 SGB X vorausgesetzt werden (vgl BSGE 65, 221, 225 f = SozR 1300 § 45 Nr 45; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 2 S 12). Dabei ist der Anwendungsbereich des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X nicht auf die Fälle beschränkt, in denen die Behörde bei Erlaß des begünstigenden Verwaltungsaktes von einem falschen, dh unrichtig oder unvollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und dies nachträglich aufgrund neuer Tatsachen erkennt. Das BSG wendet diese Vorschrift vielmehr auch auf Sachverhalte an, bei denen eine fehlerhafte Rechtsanwendung bei vollständig und richtig ermittelten Tatsachen vorliegt (vgl zB BSGE 65, 221 = SozR 1300 § 45 Nr 45; zustimmend Köhler, SdL 1992, 95, 110 mwN). Folglich werden von § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X auch die – dazwischen liegenden – Fälle erfaßt, in denen die Behörde ihr bekannte Tatsachen falsch interpretiert und deshalb noch im tatsächlichen Bereich, also nicht erst bei der Rechtsanwendung, falsche Schlüsse zieht (vgl dazu auch BVerwGE 70, 356, 357 ff).
Um einen Fall der letztgenannten Art handelt es sich hier. Bei Erlaß des Übg-Bewilligungsbescheides vom 14. Mai 1990 hat der zuständige Sachbearbeiter der Beklagten die ihm vorliegenden Angaben zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit des Klägers aufgrund einer gewissen Unklarheit in der Verdienstbescheinigung der Arbeitgeberin vom 18. April 1990 fehlerhaft ausgewertet und infolgedessen der Berechnung den unrichtigen Wert von 80,37 Arbeitsstunden pro Woche zugrunde gelegt. Dieser Irrtum in der Beweiswürdigung wurde erst durch die Prüfungsbemerkung vom 15. März 1991 offenbar. Dabei trat erneut ein Fehler auf, indem nunmehr von einer vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden ausgegangen wurde, obwohl den aktenkundigen Unterlagen mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen war, daß eine derartige Vereinbarung zwischen dem Kläger und der Arbeitgeberin nicht bestand. Deshalb waren in den verschiedenen Verdienstbescheinigungen die gesamten tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden für die letzten drei Monate angegeben worden. Selbst wenn man davon ausgehen könnte, daß die Beklagte damit ab April 1991 eine ausreichende Kenntnis der Tatsachen hatte, welche die von ihr in dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde gelegte Rechtswidrigkeit der Übg-Bewilligung ergeben, läßt sich dies nach Auffassung des erkennenden Senats auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Feststellungen jedenfalls hinsichtlich der Tatsachen, welche sich auf das Fehlen eines Vertrauensschutzes iS des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X beziehen, nicht sagen (vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 2 S 12 f).
Nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X, auf den sich die Beklagte in dem angefochtenen Verwaltungsakt gestützt hat, kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt danach vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Der Beginn der Jahresfrist setzt demnach vorliegend die Kenntnis der Beklagten voraus, daß der Kläger die (teilweise) Rechtsgrundlosigkeit (Rechtswidrigkeit) der Leistungserbringung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Bei objektiver Betrachtungsweise fehlte noch im Zeitpunkt der Bescheiderteilung vom 30. September 1992 eine vollständige und hinreichend sichere Kenntnis der Beklagten von den insofern maßgebenden Tatumständen. Für eine positive Kenntnis des Klägers im Zeitpunkt des Empfanges der Übg-Zahlungen ergeben sich nämlich nach den Feststellungen des LSG keine hinreichenden Anhaltspunkte. Da das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen und Verhalten des Betroffenen sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen ist (vgl zB BSGE 35, 108, 112 = SozR Nr 3 zu § 13 BKGG), hätte es dazu ua noch näherer Feststellungen zum psychischen Befund des Klägers während der besonderen Situation des Heilverfahrens bedurft.
Entgegen der Auffassung des LSG kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß die Beklagte vor dem Abschluß der Anhörung am 24. Oktober 1991 selbst davon überzeugt war, bereits eine ausreichende Kenntnis aller zur Bescheiderteilung erforderlichen Tatsachen zu besitzen. Der bloße Rückschluß von den in der Begründung des Verwaltungsaktes verwerteten Tatsachen reicht insoweit jedenfalls nicht aus. Denn sonst würde eine Behörde uU für die Durchführung an sich erforderlicher, langwieriger, aber letztendlich ergebnisloser Ermittlungen bestraft. Gerade wenn es um Tatumstände in der Person des Betroffenen geht, wie hier die „Bösgläubigkeit” des Klägers, wird sich die Behörde mit der Beurteilung objektiver Gegebenheiten (hier zB dem Mißverhältnis zwischen dem bisherigen Nettolohn des Klägers und der Höhe des gezahlten Übg) weder begnügen können noch wollen, ohne diesem vorher Gelegenheit gegeben zu haben, zu den entscheidungserheblichen Tatsachen Stellung zu nehmen. Nur so kann sie sich davon überzeugen, daß sie bei der Bescheiderteilung keine nur dem Betroffenen bekannten Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hat. Eben diesem Zweck dient ua auch die Anhörung nach § 24 SGB X (vgl zB BSG SozR 1300 § 24 Nr 2 S 3 f). Daher kann die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X in vergleichbaren Fällen regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen beginnen (vgl dazu auch Dörr, SozVers 1989, 29, 32; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 45 SGB X Anm 5; Kasseler Komm/Steinwedel, § 45 SGB X RdNr 27) und dies auch nur dann, wenn sich die Behörde aufgrund der Stellungnahme des Betroffenen nicht veranlaßt sieht, weitere Ermittlungen durchzuführen.
Es ist dem LSG einzuräumen, daß diese Auslegung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X der Behörde gewisse zeitliche Freiräume bei der Vorbereitung von Rücknahmebescheiden läßt. Dies liegt jedoch daran, daß die gesetzliche Regelung nicht als reine Bearbeitungsfrist konzipiert worden ist. Denn sie stellt für den Beginn der Jahresfrist nicht auf ein bloßes Kennenmüssen der Behörde, sondern auf eine positive Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen ab. Eine „disziplinierende Funktion” kommt dem § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X insofern nur in einem begrenzten Rahmen zu. Er greift im wesentlichen dann ein, wenn die Behörde von dem Zeitpunkt an, in dem sie entweder objektiv eine sichere Kenntnis aller erforderlichen Tatsachen hatte oder subjektiv von der Richtigkeit und Vollständigkeit der ihr vorliegenden Informationen überzeugt war, über ein Jahr verstreichen läßt. Demzufolge sind sowohl objektiv als auch nach dem eigenen Standpunkt der Behörde überflüssige Ermittlungen nicht geeignet, den Beginn der Jahresfrist hinauszuschieben.
Da die Rücknahme des Übg-Bewilligungsbescheides vom 14. Mai 1990 nach alledem nicht an § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X scheitert, kommt es darauf an, ob der angefochtene Verwaltungsakt im übrigen den Anforderungen des § 45 SGB X entspricht. Zunächst ist festzuhalten, daß der Bescheid der Beklagten vom 30. September 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 1993 nur insoweit auf § 45 SGB X gestützt werden kann, als der zurückgenommene Bewilligungsbescheid vom 14. Mai 1990 bei seinem Erlaß rechtswidrig war. Dies beurteilt sich danach, in welcher Höhe dem Kläger für die Zeit des Heilverfahrens Übg zustand. Da diese Frage für das LSG nicht entscheidungserheblich war, fehlt es insoweit an hinreichenden Tatsachenfeststellungen zu den maßgeblichen Berechnungsfaktoren. Soweit auf S 8 des Berufungsurteils ausgeführt wird, durch die irrtümliche Berücksichtigung der Gesamtarbeitsstunden als zusätzliche Überstunden sei ein Übg in Höhe von kalendertäglich 84,– DM anstelle eines Übg in gesetzlicher Höhe von 41,81 DM zur Auszahlung gekommen, ist dies im Hinblick darauf unverständlich, daß die Beklagte dem Kläger zuletzt kalendertäglich 42,20 DM bewilligt hat (Bescheid vom 29. Oktober 1991). Aber auch wenn der erkennende Senat trotz dieser Unklarheit die erforderlichen Berechnungen anhand der Angaben in den vom LSG angeführten Verdienstbescheinigungen selbst vornehmen würde, könnte er den Rechtsstreit nicht abschließend entscheiden, weil es dafür noch weiterer Ermittlungen zu anderen Tatbestandsmerkmalen des § 45 SGB X bedarf.
So hat sich das LSG – aufgrund seiner materiellen Rechtsauffassung zu Recht -nicht mit den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X befaßt. Insbesondere sind die Tatumstände, welche für die Annahme einer „Bösgläubigkeit” des Klägers bedeutsam sein können, nicht aufgeklärt worden. Ferner sind auch die Gesichtspunkte, welche die Beklagte ihrer Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat, noch keiner tatrichterlichen Überprüfung unterzogen worden. Da der erkennende Senat die insoweit erforderlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht selbst treffen kann (vgl § 163 SGG), ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Bei seiner weiteren Bearbeitung wird sich das LSG vor allem unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles mit den Anforderungen an eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers iS von § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X zu befassen haben. Auch wird zu prüfen sein, ob die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensabwägung das Ausmaß des für die Bewilligung des überhöhten Übg ursächlichen Verwaltungsverschuldens zutreffend beurteilt hat (vgl dazu allgemein BSG SozR 1300 § 45 Nr 19 S 58; Nr 26 S 86). Insofern dürfte zu berücksichtigen sein, daß der zuständige Sachbearbeiter den Eintragungen unter Punkt 3.3. der Verdienstbescheinigung vom 18. April 1990 im Hinblick darauf besondere Aufmerksamkeit hätte widmen müssen, als dort nach der ausdrücklichen Bearbeitungsanweisung unter bestimmten Voraussetzungen (Fehlen einer vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit) vom Arbeitgeber nicht – wie eigentlich vorgesehen – die Mehrarbeitsstunden, sondern die gesamten tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden anzugeben waren. Unter diesen Umständen hätten nicht nur die von der Firma W. zu Punkt 3.2. und 3.3. vorgenommenen Streichungen, sondern auch die übereinstimmenden Stundenangaben zu Punkt 3.1. (Stunden, in denen das zuletzt ≪für Dezember 1989≫ abgerechnete Bruttoentgelt ≪vgl Punkte 2.1. und 2.2.≫ erzielt wurde) und zu Punkt 3.3. (1. Zeile: für Dezember 1989 bezahlte Stunden) auffallen müssen. Abgesehen davon lag auch das errechnete Ergebnis von 80,37 regelmäßig geleisteten Wochenarbeitsstunden insbesondere angesichts der Alkoholkrankheit des Klägers völlig außerhalb jeder Erwartung. Etwa noch bestehende Zweifel des Sachbearbeiters daran, daß die Eintragungen zu Punkt 3.3. der Verdienstbescheinigung vom 18. April 1990 die Gesamtarbeitsstunden bezeichnen sollten, hätten im übrigen durch einen Blick auf die von der Krankenkasse zur Verfügung gestellten Berechnungsunterlagen behoben werden können.
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
BSGE, 295 |
Breith. 1997, 47 |
SozSi 1997, 159 |