Leitsatz (amtlich)
§ 44 Abs 4 SBG 10 ist bei einer sich aus den Grundsätzen von Treu und Glauben oder aus einem Herstellungsanspruch ergebenden rückwirkenden Leistungsgewährung (hier aufgrund verspäteter Beitragsnachentrichtung infolge unrichtiger Auskunft) entsprechend anwendbar.
Orientierungssatz
§ 44 Abs 4 SGB 10 schließt Leistungen für die Vergangenheit über die dort festgelegte Zeitgrenze hinaus auch in solchen Fällen aus, in denen der Versicherungsträger den Versicherten durch eine objektiv unrichtige Auskunft von einer Beitragsnachentrichtung abgehalten und dieser die Beiträge erst später nachentrichtet hat.
Normenkette
WGSVG § 10; SGB 10 § 44 Abs. 4 S. 1 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 27.03.1985; Aktenzeichen S 8 An 2751/82) |
Tatbestand
Streitig ist der Rentenbeginn aus Beiträgen, die für Beschäftigungszeiten iS von § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) gemäß § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nachentrichtet worden sind.
Der im Jahre 1900 geborene, in Israel lebende Kläger bezieht aufgrund der im Oktober 1975 beantragten Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach § 10 WGSVG ab November 1975 ein Altersruhegeld. Der Zahlung war ein Informationsschreiben der Beklagten vom März 1980 vorausgegangen, in dem sie gemäß ihrer damaligen Rechtsauffassung nicht auf die Nachentrichtungsmöglichkeit für nach § 16 FRG anerkannte Beschäftigungszeiten (s hierzu BSG, Urteil vom 14. Mai 1981, SozR 5070 § 10 Nr 16) hingewiesen hatte. Die Rente wurde nur mit rund 74 vH der Inlandsrente ausgezahlt.
Im August 1981 begehrte der Kläger die Zulassung zur weiteren Nachentrichtung für die FRG-Zeiten. Dem gab die Beklagte statt und setzte mit Bescheid vom 10. Mai 1982 das Altersruhegeld ab 1. September 1981 neu fest, da der Antrag im Vormonat gestellt worden sei. Der Kläger begehrte ohne Erfolg die höhere Rente bereits ab November 1975 (Widerspruchsbescheid vom 23. November 1982).
Der Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 27. März 1985 stattgegeben und zur Begründung auf SozR 5075 Art 4 § 2 Nr 2 Bezug genommen. Auch den Kläger habe die Beklagte mit ihrer unrichtigen Information davon abgehalten, schon bei der ersten Nachentrichtung Beiträge für die fremden Beschäftigungszeiten zu entrichten. Wäre dies geschehen, hätte die Beklagte diese Beiträge nicht anders behandelt als die übrigen; nach Treu und Glauben müsse sie daher sie hinsichtlich des Zahlungsbeginns so wie die früheren berücksichtigen. Das SG hat gegen sein Urteil die Berufung und - durch Beschluß - die Revision zugelassen.
Mit der Revision wendet sich die Beklagte nur noch dagegen, daß sie zur rückwirkenden Gewährung der höheren Rente auch für Zeiten vor dem in § 44 Abs 4 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) festgelegten Vierjahreszeitraum (1. Januar 1977) verurteilt worden ist. Diese Vorschrift enthalte einen allgemeinen Grundsatz für unberechtigt vorenthaltene Sozialleistungen (Hinweis auf SozR 1300 § 44 Nr 17). Er finde auch Anwendung, wenn die Leistung nicht durch Verwaltungsakt, sondern durch sonstiges rechtswidriges Verwaltungshandeln (hier: falsche Auskunft) vorenthalten worden sei.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern, soweit sie verurteilt worden ist, die erhöhte Rente vor dem 1. Januar 1977 zu gewähren und die Klage in diesem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist von Erfolg; sie ist nicht verpflichtet, dem Kläger die erhöhte Rente auch für Zeiten vor dem 1. Januar 1977 zu gewähren.
Zwischen den Beteiligten ist nur die Frage streitig, ab wann das im Bescheid vom 10. Mai 1982 wegen weiterer aufgrund von § 10 WGSVG nachentrichteter Beiträge neu festgestellte Altersruhegeld zu zahlen ist; daß der Nachentrichtung für den Rentenbeginn unbeschadet des Art 4 § 2 Abs 1 und 2 WGSVÄndG aus Gründen von Treu und Glauben eine Rückwirkung zukommt (vgl dazu SozR 5075 Art 4 § 2 Nr 2; Urteil vom 20. Juni 1985 - 11a RA 19/84 -), zieht die Beklagte nicht (mehr) in Zweifel. Anders als in den bisherigen Entscheidungen des Senats ist der Rückwirkungszeitraum als Streitgegenstand hier nicht auf den 1. Januar 1977 begrenzt; damit ist zu entscheiden, ob er und bejahendenfalls aufgrund welcher Rechtsnormen er zu begrenzen ist.
Der Senat hält eine Begrenzung der Rückwirkung auf den 1. Januar 1977 für rechtens. Einer weiteren über diesen Zeitpunkt hinausreichenden Leistung, wie sie der Kläger - hier bis zum 1. November 1975 - begehrt und das SG ihm zugesprochen hat, steht § 44 Abs 4 SGB 10 entgegen.
Allerdings ist diese Vorschrift nicht unmittelbar anzuwenden. § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 schreibt vor, daß Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht werden, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Der hier in Rede stehende Neufeststellungsbescheid vom 10. Mai 1982 enthält keine Rücknahme eines früheren Verwaltungsaktes, bei dem es sich gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 um einen rechtswidrigen nicht begünstigenden handeln müßte. Der das Altersruhegeld erstmals bewilligende Bescheid vom 12. August 1980 ist bei seinem Erlaß nicht rechtswidrig gewesen, weil damals noch keine Beiträge für Beschäftigungszeiten iS des § 16 FRG nachentrichtet waren. Erst als die weiteren Beiträge nachentrichtet wurden, hat die Beklagte das Altersruhegeld aufgrund von Art 4 § 2 WGSVÄndG neu feststellen müssen. Daß dabei der Nachentrichtung - nach Treu und Glauben - Rückwirkung für den Rentenbeginn beizulegen war (vgl SozR 5070 § 10 Nr 16; 5075 Art 4 § 2 Nr 2), konnte den ersten Rentenbescheid vom 12. August 1980 nicht als schon bei seinem Erlaß rechtswidrig erscheinen lassen.
Gleichwohl ist es gerechtfertigt, die in § 44 Abs 4 SGB 10 für eine rückwirkende Erbringung von Sozialleistungen festgelegte zeitliche Grenze von vier Jahren auch in einem Falle wie dem vorliegenden, in dem die Nichtgewährung in der Vergangenheit auf keinem die Rentenleistung zu Unrecht ablehnenden Verwaltungsakt, sondern auf einem sonstigen rechtswidrigen Verhalten des Leistungsträgers beruhte, für verbindlich zu halten. Dies fordert der in § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 zum Ausdruck gekommene Grundgedanke, nach dem eine nachträgliche Leistungserbringung durchweg auf diesen Endpunkt begrenzt werden soll.
Aus der Entstehungsgeschichte des § 44 Abs 4 SGB 10 wird deutlich, daß der Gesetzgeber die Begrenzung rückwirkender Leistungen auf prinzipiell vier Jahre bewußt in dieser Vorschrift verankert hat. Ausgangspunkt dafür war die Entscheidung des BSG vom 4. Dezember 1974 (BSGE 38, 224 = SozR 2200 § 29 Nr 2), daß bei rückwirkender Aufhebung eines bindenden Ablehnungsbescheides unter bestimmten Umständen auch die die Unterbrechung der Verjährung beendigende Wirkung des Ablehnungsbescheides beseitigt werde und die durch den Rentenantrag eingetretene Unterbrechung der Verjährung daher weiterlaufe. Demgegenüber hatte der erkennende Senat gemeint, auch bei einer Neufeststellung nach bindender Rentenablehnung verjähre der Rentenanspruch, und deswegen den Großen Senat des BSG (GS) angerufen; dessen Entscheidung zu dieser Frage entfiel infolge des Inkrafttretens von § 44 SGB 10 am 1. Januar 1981 (GS, Beschluß vom 15. Dezember 1982, BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 Nr 3). Unter Hinweis auf die BSG-Entscheidung vom 4. Dezember 1974 aaO ist in der Begründung des Regierungsentwurfs zu dem jetzigen § 44 Abs 4 SGB 10 ausgeführt (BT-Drucks 8/2034, S 34), der Vierjahreszeitraum, der der Verjährungsfrist von Sozialleistungen nach § 45 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB 1) entspreche, sei festgelegt, um sicherzustellen, daß nicht über diesen Zeitraum hinaus rückwirkend Leistungen zu erbringen seien. Der Gesetzgeber hat hiernach das Institut der Verjährung für die erstrebte Leistungsbegrenzung nicht für ausreichend gehalten und gerade aus dieser Erwägung heraus in § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 eine materiell-rechtliche Einschränkung für nachträglich bewilligte Sozialleistungen für die Vergangenheit geschaffen, deren Wirkung über die der Verjährung nach § 45 SGB 1 hinausgeht und einer Ausschlußfrist entspricht (so auch der 4b Senat in SozR 1300 § 44 Nr 17 mit Hinweisen auf die herrschende Literatur). Dabei ist klar zum Ausdruck gekommen, daß keinesfalls für länger als vier Jahre in die Vergangenheit zurückgegangen werden darf (BT-Drucks aaO), wobei eine einheitliche zeitliche Linie mit der Verjährungsregelung eingehalten worden ist. In dieser zeitlichen Gleichschaltung einerseits, aber auch der Verstärkung gegenüber der nur auf Einrede hin greifenden Verjährung in eine von Amts wegen zu beachtende materiell-rechtliche Leistungseinschränkung andererseits verkörpert sich ein allgemeiner Rechtsgedanke. Er hat zum Inhalt, Leistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend zu gewähren. Einleuchtende Gründe hierfür sind die Aktualität der Sozialleistungen, die im wesentlichen dem laufenden Unterhalt des Berechtigten dienen sollen, und das Interesse des Leistungsträgers an einer Überschaubarkeit seiner Leistungsverpflichtungen (s hierzu GS des BSG in BSGE 34, 1, 11 f = SozR Nr 24 zu § 29 RVO; Urteil des 1. Senats des BSG vom 23. Juli 1986 - 1 RA 31/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Diese Erwägungen rechtfertigen es, den Grundsatz einer zeitlichen Beschränkung nicht nur bei der Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes, sondern - in analoger Anwendung von § 44 Abs 4 SGB 10 - auch dann anzuwenden, wenn die Vorenthaltung von Leistungen auf sonstigem hoheitlichen Verwaltungshandeln beruht. Denn die Interessenlage ist im Falle des Klägers, der wegen einer unrichtigen Information von einer umfassenderen Beitragsnachentrichtung abgesehen hat, mit jener gleichzusetzen, die bei rechtswidriger Ablehnung einer beanspruchten Leistung besteht. In beiden Fällen wird vom Leistungsträger das Recht unrichtig angewandt, und in beiden Fällen hat das zur Folge, daß der Leistungsberechtigte nicht die ihm zustehende Leistung erlangt. Daß der Berechtigte einmal einen ablehnenden Verwaltungsakt erhalten, ein andermal dagegen schon im Vorfeld von der Anspruchsverfolgung abgesehen hat, macht rechtlich keinen ins Gewicht fallenden Unterschied. Denn so oder so ist der Leistungsträger gleichermaßen zur Korrektur verpflichtet, sei es über § 44 Abs 1 SGB 10 oder auf dem Wege von Treu und Glauben bzw einer Herstellung des ohne Pflichtverletzung des Versicherungsträgers eingetretenen Zustandes. Auf ein Verschulden des Leistungsträgers kommt es hier wie dort nicht an; auch der Umfang seiner Verpflichtung ist grundsätzlich der gleiche. Aus diesen Gründen kann es für den zeitlichen Umfang der rückwirkenden Leistung nicht wesentlich sein, ob der Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagt oder ob er aus anderen ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuß hat kommen lassen; der Berechtigte ist im letzteren Falle keinesfalls schutzwürdiger als im ersten. Die Rechtsähnlichkeit der Fallgruppen erfordert daher die Gleichbehandlung; sie wird für den letzteren Fall durch die entsprechende Anwendung von § 44 Abs 4 SGB 10 erreicht.
Der Grundsatz von Treu und Glauben kann keinen Anlaß geben, über die Leistungsgrenze von vier Jahren hinauszugehen. Er verlangt nicht stets eine volle Restitution. Wenn der Gesetzgeber in § 44 Abs 4 SGB 10 durch eine allgemeine Ausschlußfrist der rückwirkenden Leistungsgewährung eine Grenze gesetzt hat, muß diese auch bei Anwendung von Treu und Glauben Beachtung finden. Dies gilt ebenso für den in der Rechtsprechung entwickelten Herstellungsanspruch, so daß dahingestellt bleiben kann, ob die rückwirkende Rentenerhöhung hier auch kraft eines solchen hätte beansprucht werden können.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1662609 |
BSGE, 245 |