Verfahrensgang
LSG Bremen (Urteil vom 17.09.1954) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 17. September 1954 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin ist Einzelhändlerin in Bremen. Sie betreibt ihr Ladengeschäft im Erdgeschoß eines Eckhauses, in dessen zweitem Stockwerk sich auch ihre abgeschlossene Privatwohnung befindet. Das Ladengeschäft ist nicht vom Inneren des Hauses aus, sondern nur über die Straße erreichbar.
Am 29. Mai 1953 verließ die Klägerin nach Beendigung der Mittagspause ihre Wohnung und ging die Haustreppe hinunter, um wieder ihren Laden aufzusuchen. Auf der Treppe zwischen erstem Stock und Erdgeschoß kam sie zu Fall. Die dabei erlittene Verletzung führe zu Arbeitsunfähigkeit bis zum 4. August 1953, anschließend war die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch Unfallfolgen gemindert.
Die Beklagte lehnte den von der Klägerin auf Grund des Unfalls erhobenen Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 27. August 1953 unter Hinweis darauf ab, daß der versicherte Weg nach und von der Arbeitsstätte an der Außenhaustür des vom Versicherten bewohnten Hauses beginne bezw. ende.
Auf die von der Klägerin eingelegte Berufung, die nach § 215 Abs. 2 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht (SG.) Bremen überging, hob dieses mit Urteil vom 31. Mai 1954 den Ablehnungsbescheid der Beklagten auf und erklärte die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt. In den Entscheidungsgründen führte es aus: Die Auffassung, die das Reichsversicherungsamt (RVA.) in seinen Entscheidungen vom 29. September 1938 (EuM. Bd. 43 S. 338) und 15. Februar 1941 (grunds. Entsch. Nr. 5416, AN. 1941 S. 130 = EuM. Bd. 47 S. 413) – unter Abwendung von seiner früheren individuellen Beurteilung des konkreten Einzelfalles – vertreten habe und nach der allgemein die Außenhaustür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes die Grenze zwischen dem häuslichen Wirkungskreis und dem nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Weg darstelle, sei zu schematisch. Zwar seien die für diese Auffassung maßgebenden Leitgedanken des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit nicht zu unterschätzen. Ohne Gefährdung dieser Prinzipien und ohne im übrigen von der generell-abstrakten RVA-Rechtsprechung abzuweichen, könne man aber bei städtischen Miethäusern (Wohnblöcken) der Verkehrsanschauung entsprechend annehmen, daß der häusliche Wirkungskreis durch die Etagenwohnungstür und nicht erst durch die Haustür abgegrenzt werde. Die wesentlichen Teile des häuslichen Lebens spielten sich in der Wohnung ab, auch wenn zu ihr noch evtl. ein Keller gehöre, den der Versicherte zu häuslichen Zwecken aufsuchen müsse. Die verallgemeinernde Auffassung des RVA. führe zu einer Fiktion, die mit der allgemeinen Erfahrung des täglichen Lebens unvereinbar sei.
Die Berufung der Beklagten hatte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG.) hob durch Urteil vom 17. September 1954 die Entscheidung des SG. auf und stellte den Ablehnungsbescheid der Beklagten wieder her. Nach eingehender Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Schrifttum wird in den Urteilsgründen ausgeführt, der Standpunkt des SG. entspreche nicht der Verkehrsanschauung. Auch in den vom SG. hervorgehobenen städtischen Wohnhäusern seien völlig unterschiedliche Verhältnisse möglich, die zu unterschiedlicher Abgrenzung des häuslichen Wirkungskreises in bezug auf das Treppenhaus zwingen würden. Es wäre unverständlich für die Versicherten, wenn ihr Entschädigungsanspruch von der rechtlichen Gestaltung oder den tatsächlichen Gegebenheiten ihres Wohnverhältnisses abhängen sollte. Rechtssicherheit sei auf diese Weise nicht zu erlangen. Diese Schwierigkeiten der Rechtsfindung, zu denen noch die Schwierigkeiten der Tatsachenermittlung kämen, zwängen zu einer generellen Gesetzesauslegung. Das SG. habe möglicherweise den Gleichheitsgrundsatz, jedenfalls aber den Zweck des § 543 Abs. 1 RVO verkannt, nach dem Versicherungsschutz gegen mit der Berufstätigkeit zusammenhängende Verkehrsgefahren gewährt werde, nicht aber gegen Gefahren, die den Versicherten in ihrem Hause drohen. Die Revision ist zugelassen worden.
Gegen das am 28. Oktober 1954 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 25. November 1954 Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil des LSG. Bremen dahin zu ändern, daß die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Bremen kostenpflichtig zurückgewiesen wird.
Zur Begründung der Revision wird geltend gemacht: Das LSG. habe Sinn und Inhalt des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO verkannt. Der Umstand, daß das Gesetz keine nähere Begriffsbestimmung des Wegeunfalls gegeben habe, ermächtige nicht die Rechtsprechung, zur Gesetzesausfüllung allgemeine Normen zu entwickeln, die mit gesetzesähnlicher Wirkung für verschiedenartige Fälle bindend sein sollten. Das Gericht müsse vielmehr die unbestimmte Vorschrift so auslegen, daß der Einzelfall gerecht entschieden werde; hierzu habe die Rechtsprechung Richtlinien zu entwickeln, die dem besonderen Einzelfall bezw. Gruppen rechtlich und tatsächlich verwandter Fälle gerecht würden. Diese typischen Gruppen seien so eng zu umreißen, daß möglichst viele Einzelfälle materiell richtig entschieden würden; von dieser Typisierung sei zutreffend das SG. ausgegangen. Der Gesichtspunkt der vereinfachten Rechtsanwendung, den zuletzt das RVA. und mit ihm das LSG. berücksichtigt hätten, entspreche dem Vorgehen der Verwaltung, nicht der richterlichen Aufgabe. Beweisschwierigkeiten rechtfertigten für das Gericht keinesfalls eine die Besonderheiten des Einzelfalles bewußt außer Acht lassende generalisierende Betrachtung; im vorliegenden Fall habe gerade der unfallbringende Weg der Klägerin unbestritten der Erreichung des Ladens gedient. Die Entscheidungen des Bayerischen Landesversicherungsamts vom 27. Januar 1949 (Breith. 1949 S. 47) und 13. Oktober 1950 (Bayer. AMBl. 1950 S. 717 = Breith. 1951 S. 574) zeigten ebenfalls, daß die Grundsätze des RVA. rechtlich untragbar seien. Es sei auch zweifelhaft, ob das RVA. im Falle seines Weiterbestehens seine nach langem Schwanken erst kurz vor seiner Auflösung gebildete „ständige Rechtsprechung” heute noch aufrechterhalten würde. Deshalb komme es nicht etwa darauf an, ob es sich bei dem
Unfall der Klägerin um einen besonderen, eigentümlich gelagerten Fall gehandelt habe; die Auffassung des RVA. sei heute nicht mehr verbindlich. Schließlich beruft sich die Klägerin auf die Anmerkung von Schieckel zum angefochtenen Urteil (SGb. 1955 S. 151).
Die Beklagte hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das mit den Entscheidungen des RVA. vom 29. September 1938 und 15. Februar 1941 übereinstimmende Urteil des LSG. Bremen für zutreffend. Die gegenteilige Auffassung des SG. Bremen bedeute einen Rückschritt. Es sei Aufgabe der Rechtsprechung, eine möglichst gleichmäßige Entscheidung gleichartig liegender Einzelfälle durch Aufstellung allgemeiner Normen herbeizuführen. Die Revision habe keine Besonderheiten des vorliegenden Streitfalles angeführt, die ausnahmsweise eine Abweichung von der vom RVA. aufgestellten Norm rechtfertigten.
Die Revision ist statthaft (§ 161 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist jedoch unbegründet.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Auslegung des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO ab. Hiernach gelten als Arbeitsunfälle auch Unfälle auf einem mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängenden Wege nach und von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte. Der eine Grenzpunkt des unter Versicherungsschutz stehenden Weges ist demgemäß mit der Arbeits- (oder Ausbildungs)-stätte eindeutig festgelegt. Die Bestimmung des anderen Grenzpunktes bereitet dagegen nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Aus dem Gesetzeswortlaut ist nur zu entnehmen, daß der Versicherungsschutz beginnen oder aufhören soll mit dem Beginn oder Ende des mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängenden Weges (= unterwegs sein) nach oder von der Arbeitsstätte. Auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt keine für die Auslegung zwingenden Anhaltspunkte. Bei der Einführung des Versicherungsschutzes für die sogenannten
Wegeunfälle durch den seinerzeitigen § 545a RVO im zweiten Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl. I S. 97) ist die Festlegung von Beginn und Ende des von der Versicherung zu erfassenden „Weges” der Rechtsprechung überlassen worden (Reichstagsdrucks., III. Wahlperiode 1924, Nr. 1060 S. 6). Zwar mag die schon damals erkannte zunehmende Gefährdung der getrennt von ihren Arbeitsstätten wohnenden Beschäftigten durch den wachsenden – namentlich den motorisierten – Straßenverkehr ein Anlaß zur Schaffung dieser Vorschrift gewesen sein (Reichstagsdrucks. Nr. 1060 a.a.O.; Stenografische Berichte, 43. Sitzung, S. 1275). Diese Erwägung hat jedoch in dem Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden; deshalb kann ihr keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Dieser schon in der Entscheidung des RVA. vom 16. März 1927 (BG. 1927 Sp. 195/96) vertretene Standpunkt wird vom erkennenden Senat geteilt (vgl. auch BSG. 1 S. 11 ff.; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 4. Aufl., Bd. I S. 190 o VI mit weiteren Nachweisen; a.M. Lange, BG. 1927 Sp. 188 ff.). Auch die Neufassung des jetzigen § 543 RVO durch das Sechste Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (RGBl. I S. 107) hat hieran nichts geändert (vgl. die Amtliche Begründung in AN. 1942 S. 199). Dem Vorderrichter ist deshalb nicht ohne weiteres zuzustimmen, wenn er es, ähnlich anderen Entscheidungen aus neuerer Zeit (LSG. Celle in SGb. 1954 S. 83; LSG. Darmstadt in Breith. 1954 S. 907 und SGb. 1955 S. 148), ausdrücklich als den Zweck des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO bezeichnet, Versicherungsschutz für die den Versicherten im Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit drohenden Verkehrsgefahren zu gewähren.
Der mit der Tätigkeit im Unternehmen zusammenhängende Weg nach und von der Arbeitsstätte kann – abgesehen von der Arbeitsstätte – verschiedene Grenzpunkte haben. In der Regel wird er aus dem häuslichen Bereich, auch „häuslicher Wirkungskreis” genannt, angetreten oder dort beendet werden. So war es auch in dem hier zu entscheidenden Fall. Dieser noch nicht oder nicht mehr dem Versicherungsschutz unterliegende häusliche Bereich ist abzugrenzen gegen den mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängenden Weg nach oder von der Arbeitsstätte. Das RVA. hatte diese Aufgabe zunächst unter äußerst weitgehender Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles zu lösen versucht. Entgegen der damals geübten Kritik (Lange a.a.O.) und der Annahme der Revision war diese Rechtsprechung keineswegs „weitherzig” in einem dem Versicherten günstigen Sinne, sondern führte überwiegend zu einer Ablehnung des Versicherungsschutzes.
So hat das RVA. allerdings bei Mehrfamilienhäusern mit in verschiedenen Stockwerken befindlichen abgeschlossenen Mietwohnungen die Grenze des häuslichen Bereichs bei der Tür der Etagenwohnung gezogen, also den Versicherungsschutz bei Unfällen im Treppenhaus nach Verlassen oder vor Erreichen der Etagenwohnung bejaht (grunds. Entsch. Nr. 3231, An. 1926 S. 434 = EuM. Bd. 19 S. 325; BG. 1927 Sp. 195/96; EuM. Bd. 21 S. 93, Bd. 22 S. 301). Es war jedoch andererseits infolge dieser Betrachtungsweise genötigt, entsprechend den jeweiligen Wohnverhältnissen die Grenze des häuslichen Bereichs auch außerhalb des Wohnhauses zu ziehen. Infolgedessen waren Unfälle, die sich in der Umgebung des Hauses (Vorgarten, Hofraum und dgl.) ereigneten, u.U. nicht zu entschädigen, auch wenn sie unzweifelhaft in sehr nahen örtlichen und zeitlichen Beziehungen zum versicherten Teil des Weges standen (EuM. Bd. 22 S. 102 und 197, Bd. 26 S. 345; Bd. 28 S. 443, Bd. 30 S. 5, Bd. 32 S. 216; ferner Sächs. LVAmt. in Monatsschrift f. Arb. u. Ang.Vers. 1928 Sp. 65/66). Wenn der Versicherte ein Einfamilienhaus bewohnte, neigte das RVA. übrigens stets dazu, den häuslichen Bereich auf das ganze Haus zu erstrecken (EuM. Bd. 21 S. 179 und 359, Bd. 37 S. 285, Bd. 43 S. 17).
Die Rechtsprechung des RVA. gelangte so im Laufe der Jahre zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, je nach dem, ob städtische oder ländliche Verhältnisse vorlagen, ob das Haus in einem Garten oder Hofraum stand und ob es ein Ein- oder Mehrfamilienhaus war. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen hatten gezeigt, daß die Versuche, den häuslichen Bereich betont individuell abzugrenzen, eine überzeugende, widerspruchsfreie Entscheidung immer mehr erschwerten. Das RVA. war deswegen bemüht, eine allgemein verständliche, sich auf objektive Merkmale stützende Grenze zu finden. Als solche Grenze hat das RVA. schließlich die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes angesehen (EuM. Bd. 43 S. 338; grunds. Entsch. Nr. 5416, AN. 1941 S. 130 = EuM. Bd. 47 S. 413). Wie der Vorderrichter eingehend dargelegt hat, ist das RVA. hierbei davon ausgegangen, daß z. B. Treppenhaus, Boden, Keiler, Hausflur auch im Mehrfamilienhaus vielfach noch zum häuslichen Bereich zu rechnen seien, während andererseits Betätigungen außerhalb des Hauses im Gehöft oder Garten sich regelmäßig nicht mehr im häuslichen Bereich abspielten. Diese Grenzziehung mochte zwar, wie das RVA. zum Ausdruck gebracht hat, nicht in allen Fällen voll der Verkehrsanschauung entsprechen. Trotzdem entschloß es sich zu dieser Lösung, weil der Vorteil einer einfachen Abgrenzung, die keine Zweifel bieten konnte, gegenüber der bisherigen, zu sehr ins einzelne gehenden, immer neue Zweifel aufwerfenden Rechtsübung auf der Hand lag.
Es ist der Revision bezüglich ihrer Kritik an dieser Entwicklung der Spruchpraxis zwar zuzugeben, daß es nicht Aufgabe des Richters ist, unbeschränkt allgemeine Normen aufzustellen (vgl. hierzu das Gutachten des BGH., 1. Zivilsenat vom 6. September 1953 in BGHZ. Bd. 11 Anh. S. 34 ff.). Ob das RVA. in seiner späteren, sich unterschiedslos auf alle Fälle erstreckenden Rechtsprechung etwa in dieser Hinsicht zu weit gegangen ist, konnte aber dahingestellt bleiben. Der Senat ist der Ansicht, daß – jedenfalls für den begrenzten Kreis von Fällen der hier zu entscheidenden Art. – eine einheitliche Auslegung des Erfahrungsbegriffs „häuslicher Bereich” nach objektiven Merkmalen grundsätzlich möglich und notwendig ist. In Übereinstimmung mit dem Vorderrichter ist er allerdings der Meinung, daß Beweisschwierigkeiten bei der Beurteilung des Einzelfalles nicht ausschlaggebend sein dürfen. Es kommt vielmehr darauf an, welche Sphäre in solchen Fällen im allgemeinen noch dem häuslichen, also dem privaten und damit unversicherten Bereich zuzurechnen ist.
Der Senat hat in diesem Zusammenhang erwogen, ob in dem hier zu entscheidenden Fall, in dem es sich um ein städtisches Wohnhaus mit abgeschlossenen Etagenwohnungen handelt, etwa mit dem SG. die Etagentür als Grenze des häuslichen Bereichs angenommen werden könnte und ob damit vielleicht als häuslicher Bereich diejenigen Räume zu bezeichnen wären, die dritten Personen regelmäßig nicht zugänglich sind (vgl. hierzu EuM. Bd. 38 S. 4). Die Frage war jedoch in Übereinstimmung mit dem Vorderrichter zu verneinen, weil es nicht vertretbar erscheint, den Versicherungsschutz davon abhängig zu machen, ob die Haustür abgeschlossen ist oder nicht. Ebenso ungeeignet als Maßstäbe für die Abgrenzung wären die vom Vorderrichter eingehend erörterten sonstigen Unterschiede hinsichtlich der rechtlichen Gestaltung oder der tatsächlichen Gegebenheiten des Wohnverhältnisses. Den Versicherungsschutz mit solchen, fast beliebig zu variierenden Verschiedenheiten zu verknüpfen, wäre, wie dies der Vorderrichter zutreffend ausgeführt hat, nicht vertretbar. Der Senat mußte hierbei noch insbesondere berücksichtigen, daß so eine der wichtigsten Aufgaben gerade der oberen Bundesgerichte ist, der Rechtssicherheit zu dienen. Die Rechtssicherheit würde aber in nicht tragbarer Weise gefährdet werden, wenn man es für den Versicherungsschutz auf solche Umstände des Einzelfalles abstellte.
Im übrigen haben auch in einem Haus mit abgeschlossenen Etagenwohnungen die einzelnen Mieter ein Mitbenutzungs- und Verfügungsrecht über das Treppenhaus. Dies kommt auch zur Geltung bei der strafrechtlichen Begriffsbestimmung des Hausfriedensbruchs; so werden zur „Wohnung” im Sinne des § 123 StGB. Flur, Vorplätze, Treppen, Keller und sonstige Räumlichkeiten, deren Benutzung mehreren Hausbewohnern gemeinsam zusteht, als „integrierende Bestandteile” gerechnet (RGSt. Bd. 1 S. 121; Schönke-Schröder, StGB.-Kommentar, 7. Aufl., § 123, Anm. III 1 und IV 2b). Da also auch im Mehrfamilienhaus solche Räumlichkeiten, insbesondere das Treppenhaus, allgemein privaten Zwecken dienen, ist der häusliche Bereich erst nach Durchschreiten der ihn abschließenden Außenhaustür verlassen.
Der Senat befindet sich mit seinem Standpunkt in Übereinstimmung mit der in Rechtsprechung und Schrifttum seit 1945 überwiegenden Ansicht, die bereits vom Vorderrichter weitgehend und zutreffend gewürdigt worden ist. Dabei ist noch ein Gesichtspunkt hervorzuheben, den bereits das RVA. angedeutet hat (EuM. Bd. 47 S. 1), und der in Entscheidungen des Bayerischen LSG. (AMBl. 1955 S. B 112) sowie das LSG. Nordrhein-Westfalen (Breith. 1955 S. 131 = BG. 1955 S. 220) näher ausgeführt ist. Der Versicherungsschutz erstreckt sich insbesondere deshalb nicht auf den häuslichen Bereich, weil dieser im allgemeinen dem Versicherten besser als anderen Personen bekannt ist und damit für ihn eine Gefahrenquelle darstellt, für die er selbst verantwortlich ist. Diese Erwägung trifft jedenfalls noch für die den Mietern in einem Mehrfamilienhaus gemeinsam zur Verfügung stehenden Einrichtungen, wie hier das Treppenhaus, zu.
Der vorliegende Fall bietet nach dem eigenen Vortrag der Klägerin keine Besonderheiten, die von den üblichen in einem städtischen Mehrfamilienhaus herrschenden Verhältnissen abweichen. Der Senat brauchte daher die Frage nicht zu prüfen, ob, in Abwandlung der sich auf alle Fälle beziehenden, also stark verallgemeinernden Rechtsprechung des RVA., unter anderen Verhältnissen eine individuellere Abgrenzung des häuslichen Bereichs erforderlich wäre. Anlaß hierzu könnten Veränderungen im städtischen Wohnungsbau geben, wie z. B. die Errichtung von Wohnblocks, in denen ohne Verlassen der Außenhaustür Läden erreichbar sind, von Hochhäusern, die in den oberen Stockwerken Mietwohnungen enthalten, während im Unterbau Behörden oder Firmen mit erheblichem Publikumsverkehr (unter Umständen mit Aufzug oder Rolltreppe) untergebracht sind und dgl. Auf die Bedeutung solcher Entwicklungstendenzen, vor allem des modernen großstädtischen Bauwesens, hat mit Recht Schieckel hingewiesen (SGb. 1955 S. 151; siehe auch LSG. Celle in SGb. 1954 S. 83). Der von der Revision angeführten Entscheidung des Bayerischen Landesversicherungsamts vom 27. Januar 1949 (Breith. 1949 S. 47) lagen besondere, im vorliegenden Fall nicht gegebene tatsächliche Verhältnisse zugrunde.
Die Revision war demnach unbegründet und mußte deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 926575 |
NJW 1957, 37 |