Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechnung von Beitragsrückständen gegen den Rentenanspruch eines Hausgewerbetreibenden
Leitsatz (amtlich)
Ein in eigener Betriebsstätte mit zwei Familienangehörigen tätiger Hausweber, der - bei persönlicher Unabhängigkeit - im Auftrag und für Rechnung anderer Gewerbetreibender gewerbliche Erzeugnisse herstellt, ist Hausgewerbetreibender iS der RVO §§ 162, 1226 Nr 2 aF. Hieran ändert sich nichts dadurch, daß ein solcher Hausweber als Heimarbeiter iS des Heimarbeitergesetzes gelten mag.
Die nach 1945 auf Grund der Ermächtigung des RVO § 1436 Abs 2 aF (ArVNG Art 2 § 46) getroffenen Regelungen einer LVA sind jedenfalls dann nicht revisibel, wenn ihr Geltungsbereich ausdrücklich auf den Bereich der LVA beschränkt ist und dieser im Bezirk nur eines Berufungsgerichts liegt.
Leitsatz (redaktionell)
Der Rentenversicherungsträger ist berechtigt, den Beitragsrückstand (Rentenversicherung) eines Hausgewerbetreibenden in voller Höhe aufzurechnen (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil), wenn dieser nach gen der Krankenkasse die Rechte und Pflichten eines Arbeitgebers für die Beitragsentrichtung zu übernehmen hat.
Normenkette
RVO § 1226 Nr. 2 Fassung: 1945-03-17, § 1436 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15, § 162 Fassung: 1945-03-17; SGG § 162 Abs. 2; ArVNG Art. 2 § 46 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1309 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Oktober 1962 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin setzt den Rechtsstreit ihres während des ersten Rechtszuges verstorbenen Ehemannes (Versicherter) fort. Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte einen Rückstand an Beiträgen zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) mit Rentenleistungen verrechnen durfte.
Der Versicherte hatte in seinem - im Kreise E gelegenen - Wohnhaus mit eigenen Webstühlen seit Mai 1950 zusammen mit der Klägerin und einer Schwiegertochter Webarbeiten für eine Weberei in R gegen Zahlung von Stücklöhnen ausgeführt. Die Weberei lieferte die Rohstoffe und gab Anweisungen über die Art der Verarbeitung. Im übrigen war der Versicherte keiner Beaufsichtigung unterworfen, konnte Hilfskräfte beschäftigen und die Arbeiten aufteilen.
Nachdem die Beklagte im Jahre 1952 Beitragsrückstände für den Versicherten in Höhe von insgesamt 1.022,- DM festgestellt hatte, forderte sie diese mit Zahlungsaufforderungen ein. Dabei ging sie davon aus, daß der Versicherte als Hausgewerbetreibender nach den "Sonderbestimmungen", die sie auf Grund des § 1436 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) alter Fassung (aF) für die in den linksrheinischen Kreisen ihres Bereichs tätigen Hausweber erlassen hat, Schuldner der Beiträge sei. Der Versicherte leistete bis August 1954 durch Ratenzahlungen 615,- DM, so daß ein Restbetrag von 407,- DM verblieb. Diesen Betrag verrechnete die Beklagte, als sie dem Versicherten mit Bescheid vom 2. Juli 1955 Invalidenrente von November 1954 an gewährte, mit der Rentennachzahlung.
Mit der gegen die Einbehaltung von 407,- DM zum Sozialgericht (SG) erhobenen Klage machte der Versicherte geltend, bei dem Betrag handele es sich um die Arbeitgeberanteile. Diese habe er nicht zu entrichten, weil er als Heimarbeiter i. S. des Heimarbeitsgesetzes (HAG) zu beurteilen sei und deshalb auch in versicherungsrechtlicher Hinsicht einem Arbeitnehmer gleichgestellt werden müsse. Die Auftragsfirma habe im übrigen für die Zeit vor dem 1. Juli 1952 entgegen den "Sonderbestimmungen" keine Anteile zu den Beiträgen durch Zahlung einer höheren Vergütung geleistet.
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Versicherten als selbständigen Hausgewerbetreibenden i. S. des § 162 RVO angesehen und eine Verpflichtung des Versicherten zu Beitragsleistungen in Höhe des streitigen Betrags auf Grund der §§ 1226 Nr. 2, 1436 Abs. 2 RVO aF in Verbindung mit § 4 der "Sonderbestimmungen" bejaht; es hat nicht geprüft, ob die Auftragsfirma Beitragsanteile erstattet hat, weil dies eine für die Entscheidung unerhebliche, nur das Innenverhältnis zwischen dem Versicherten und der Auftraggeberin betreffende Frage sei. Die Begriffsbestimmungen des HAG seien für die versicherungsrechtliche Stellung der unter dieses Gesetz fallenden Personen ohne Bedeutung.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Klägerin,
die Beklagte unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen zu verurteilen, ihr 407,- DM zu zahlen.
Sie rügt, das LSG habe die versicherungsrechtliche Stellung ihres Ehemannes verkannt. Dieser sei als Heimarbeiter nicht zur Zahlung der vollen Beiträge verpflichtet gewesen. Außerdem habe das LSG die "Sonderbestimmungen" verletzt. Wenn die Abgeltung der Anteile der Auftraggeberin durch Zahlung höherer Stücklöhne erfolgt sei, wie die Beklagte behaupte, so verstoße dies gegen die §§ 2, 3 der "Sonderbestimmungen" und sei deshalb nichtig. Dies führe dazu, daß die Firma E die Beiträge schulde, weil sie bisher die Arbeitgeberanteile noch nicht gemäß §§ 2, 3 der Sonderbestimmungen prozentual dem Brutto-Rohverdienst oder dem Netto-Reinverdienst errechnet und erstattet habe. Dies gelte jedenfalls für die Zeit vom 1. März 1951, dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Sonderbestimmungen, an. Wie die Rechtslage für die Zeit vorher zu beurteilen sei, müsse noch geklärt werden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertritt unter Hinweis auf das angefochtene Urteil die Auffassung, eine etwaige Verletzung der §§ 2, 3 der Sonderbestimmungen durch die Auftraggeberin berühre die Pflicht des Versicherten zur Entrichtung des vollen Beitrags nicht.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Die Rentennachzahlung steht in Höhe von 407,- DM der Klägerin nicht zu. Die Beklagte durfte einen Beitragsrückstand in dieser Höhe verrechnen, weil der Versicherte Schuldner der Beiträge war.
Rentenansprüche konnten nach § 1309 RVO aF - diese Vorschrift ist auf vor dem 1. Januar 1957 erfolgte Verrechnungen anzuwenden (Art. 3 § 8 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -) - aufgerechnet werden auf geschuldete Beiträge. Eine Verpflichtung des Versicherten zur Entrichtung des vollen Beitrags zur ArV und damit zur Leistung des Restbetrags von 407.- DM hängt, wie das LSG zutreffend erkannt hat, davon ab, ob dieser nach § 1226 Nr. 1 RVO in der damals für die frühere britische Zone geltenden Fassung der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts vom 17. März 1945 (Vereinf. VO) als Arbeiter oder nach Nr. 2 derselben Vorschrift als Hausgewerbetreibender versicherungspflichtig zur ArV war. Im ersten Falle hätte der Arbeitgeber die Beiträge im Lohnabzugsverfahren an die Krankenkasse abzuführen gehabt (§ 12 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes vom 17. Juni 1949, § 8 der 2. Lohnabzugsverordnung vom 24. April 1942) und wäre Schuldner der Beiträge gewesen. Dagegen richtete sich die Erhebung der Beiträge für den Versicherten als Hausgewerbetreibenden nach den für diese erlassenen "Bestimmungen" der Beklagten. Das LSG hat mit Recht angenommen, daß der Versicherte Hausgewerbetreibender i. S. des § 162 RVO, nicht Arbeiter, war und deshalb Versicherungspflicht zur ArV nach § 1226 Nr. 2 RVO in der o. a. Fassung bestand.
Daß die Vorschrift des § 162 RVO, die die Begriffsbestimmung des Hausgewerbetreibenden enthält, trotz der im Art. 15 Abs. 3 der 1. Vereinf. VO vorgesehenen Aufhebung bestehen geblieben ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden (BSG 18, 70, 72, f). Danach gelten als Hausgewerbetreibende i. S. der RVO die selbständigen Gewerbetreibenden, die in eigenen Betriebsstätten im Auftrag und für Rechnung anderer Gewerbetreibender gewerbliche Erzeugnisse herstellen oder bearbeiten. Hierzu hat das BSG (BSG 18, 70, 73 f) ausgeführt, daß die Hausgewerbetreibenden zwischen den unselbständigen Arbeitnehmern und den für eigene Rechnung tätigen Gewerbetreibenden stehen. Sie unterscheiden sich von den (unselbständigen) Arbeitnehmern durch persönliche Unabhängigkeit, die sich in einer freien Bestimmung über die Arbeitszeit, Umfang und Reihenfolge der Arbeit und über die Heranziehung von Hilfskräften, insbesondere auch von Familienangehörigen, äußert. Wirtschaftlich sind sie weniger unabhängig, weil sie im Auftrag und für Rechnung eines anderen Gewerbetreibenden tätig sind, das geschäftliche Risiko eines Selbständigen nicht tragen und auch den Unternehmergewinn nicht erlangen. Das BSG hat in diesem Zusammenhang entschieden, daß die Begriffsbestimmungen des § 2 HAG vom 14. März 1951 (BGBl. I 191), wonach zwischen Heimarbeitern und Hausgewerbetreibenden im wesentlichen je nach der Beschäftigung von Familienangehörigen (Heimarbeiter, § 2 Abs. 1 HAG) oder fremden Hilfskräften (Hausgewerbetreibender, § 2 Abs. 2 HAG) unterschieden wird, für die versicherungsrechtliche Beurteilung dieser Personen ohne Bedeutung sind. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an.
Die Tätigkeit des Versicherten entsprach während des maßgeblichen Zeitraums seit Mai 1950 derjenigen eines Hausgewerbetreibenden i. S. der vorstehenden Erörterungen. Nach den - nicht angegriffenen - tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der Senat gebunden ist (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), verarbeitete der Versicherte in eigener Werkstatt Rohmaterial seiner Auftraggeberin gegen Zahlung von Stücklohn. Diese Arbeiten führte er in persönlicher Unabhängigkeit von seiner Auftraggeberin aus, weil er keiner Beaufsichtigung unterlag und Hilfskräfte beschäftigen konnte. Eine Versicherungspflicht als unselbständiger Arbeiter scheidet deshalb aus, auch wenn der Versicherte nach dem HAG Heimarbeiter, also nicht Hausgewerbetreibender, sein sollte.
Versicherungspflicht zur ArV als Hausgewerbetreibender nach § 1226 Nr. 2 RVO in der Fassung der 1. Vereinf. VO erforderte, daß der Versicherte krankenversicherungspflichtig oder nur wegen der Höhe seines Jahresarbeitsverdienstes krankenversicherungsfrei war. Diese Voraussetzung erfüllte der Versicherte. Die Krankenversicherungspflicht eines Hausgewerbetreibenden hängt zwar nach § 166 RVO von der Höhe des Jahreseinkommens ab (es darf einen bestimmten Betrag nicht übersteigen), doch ist es für die ArV unerheblich, ob das Einkommen des Versicherten innerhalb der damals maßgeblichen Verdienstgrenze lag. Auch bei Krankenversicherungsfreiheit wegen Überschreitens dieser Jahreseinkommensgrenze bestand Versicherungspflicht zur ArV. Die Beitragspflicht des Versicherten richtete sich daher nicht nach den für Arbeiter und deren Arbeitgeber geltenden Vorschriften, sondern nach den "Sonderbestimmungen".
Das LSG hat die "Sonderbestimmungen" dahingehend ausgelegt, daß der Versicherte den Beitragsrückstand von 407,- DM schuldete und daß diese Verpflichtung durch die Regelung über die Erstattung von Beitragsanteilen durch den Auftraggeber nicht berührt wurde. Diese Entscheidung ist gemäß § 162 Abs. 2 SGG i. V. m. § 562 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der auch im Revisionsverfahren vor dem BSG gilt (BSG 4, 156, 161), für den Senat maßgebend. Die "Sonderbestimmungen" sind ausdrücklich beschränkt auf die Erhebung der Beiträge für die in den linksrheinischen Kreisen des Bezirks der Beklagten tätigen Hausweber, die für Auftraggeber mit einem im Bereich der Beklagten gelegenen Betriebssitz arbeiten. Die Beklagte hat demnach die im § 1436 Abs. 2 Satz 2 RVO aF gegebene Ermächtigung, auch die Pflichten der Arbeitgeber zu regeln, lediglich für die in ihrem Bereich ansässigen Auftraggeber von Hauswebern ausgeübt, so daß die Sonderbestimmungen nur im Bezirk der Beklagten Anwendung finden. Da sich der Bereich der Beklagten nicht über denjenigen des Berufungsgerichts, des Landes Nordrhein-Westfalen, erstreckt, sind die Sonderbestimmungen nicht revisibel (§ 162 Abs. 2 SGG); die hierauf beruhenden Entscheidungen des LSG sind für das BSG bindend. Daher ist auch eine Überprüfung des gerügten Verstoßes gegen die die Erstattungspflicht der Auftraggeber regelnden §§ 2, 3 der "Sonderbestimmungen" und des Hinweises auf die Anwendung anderer Vorschriften für die Zeit vor dem 1. März 1951 ausgeschlossen.
Bei dieser Sach- und Rechtslage ist der Versicherte als Schuldner des Beitragsrückstandes anzusehen. Die Aufrechnung gegen die Rentennachzahlung erfolgte zu Recht. Infolgedessen ist der Anspruch auf Rentenleistungen in Höhe von 407,- DM erloschen, die Revision der Klägerin daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen