Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.09.1989) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. September 1989 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) Arbeitslosengeld (Alg) nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) für eine Zeit der Beschäftigungslosigkeit als Strafgefangener nach Erhalt des Status als Freigänger bis zur Aufnahme einer Arbeit als Freigänger.
Der Kläger war Strafgefangener vom 4. Dezember 1981 bis zum 19. Juli 1985. Er war in den letzten 3 Jahren vor dem mit Wirkung vom 1. März 1985 gestellten Antrag auf Alg iS des § 107 AFG über die Gleichstellung von Beschäftigungszeiten als Gefangener beitagspflichtig (§ 168 Abs 3a AFG) an 394 Tagen. Ihm wurde mit Wirkung vom 1. März 1985 gestattet, einer Arbeit auf der Grundlage eines freien Beschäftigungsverhältnisses außerhalb der Anstalt nachzugehen. Er meldete sich am 29. Januar 1985 arbeitslos und beantragte Alg. Vom 1. Mai 1985 bis zum 12. Juli 1985 war er als Freigänger beitragspflichtig beschäftigt.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Alg ab; Verfügbarkeit könne bei einem Strafgefangenen mit dem Status eines Freigängers nur dann bejaht werden, wenn dieser vor der Arbeitslosmeldung in einem freien Beschäftigungsverhältnis gestanden habe (Bescheid vom 23. Juli 1985; Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 1986).
Das Sozialgericht (SG) hat die beklagte BA antragsgemäß verurteilt, Alg für die Zeit vom 1. März bis zum 30. April 1985 zu zahlen (Urteil vom 12. Februar 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten, die im Urteil des SG zugelassen war, zurückgewiesen (Urteil vom 14. September 1989).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist entgegen der Auffassung des Klägers zulässig. Die fristgemäße Revisionsbegründung läßt erkennen, daß die Beklagte dem Gesamtzusammenhang der §§ 100 bis 104 AFG den Rechtssatz entnehmen will, ein Strafgefangener sei als Freigänger, solange er noch keine Beschäftigung als Freigänger ausgeübt habe, weder arbeitslos noch verfügbar. Damit ist die Revision zulässig, auch wenn das Revisionsvorbringen zur Lage des Arbeitsmarktes, zur Üblichkeit des Arbeitsangebots eines Freigängers und zur subjektiven Verfügbarkeit sich gegen tatsächliche Feststellungen richtet, ohne die Form einer revisionsrechtlichen Verfahrensrüge einzuhalten.
Die Revision der Beklagten ist jedoch unbegründet. Der Status als Freigänger schließt nicht aus Rechtsgründen unabhängig von den tatsächlichen Verhältnissen des Arbeitsmarktes und dem Arbeitswillen einen Anspruch auf Alg aus. Insbesondere erlaubt das AFG es nicht, zwischen einem Freigänger, der erstmalig eine freie Beschäftigung sucht, und einem solchen, der zuvor schon als Freigänger beschäftigt war, zu unterscheiden.
Rechtspolitisch mag es bedenklich stimmen, daß nach der im AFG getroffenen Regelung der Anspruch auf Alg während der Strafzeit verbraucht werden kann, zumal die Verpflichtung der Strafvollzugsanstalt, bei der Gewährung von Freigang auf einen ausreichenden Restanspruch bei der Strafentlassung hinzuwirken, nicht geregelt ist. Auch mag es rechtspolitisch wünschenswert sein, daß nur der zuvor als Freigänger Tätige einen Anspruch auf Alg hat. Die gesetzliche Regelung erlaubt es indes nicht, solchen Erwägungen durch Auslegung Rechnung zu tragen.
Das BSG hat es bereits zur Krankenversicherung abgelehnt, den Versicherungsschutz der Freigänger im Wege der Rechtsfortbildung zu entwickeln (BSGE 61, 62 = SozR 2200 § 216 Nr 9). Nach § 216 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF ruhte der Anspruch auf Krankenhilfe, solange gegen den Berechtigten eine Freiheitsstrafe vollzogen wurde. Das galt nach der angeführten Entscheidung auch dann, wenn ein Strafgefangener als sog Freigänger außerhalb der Strafvollzugsanstalt einer Beschäftigung nachging und Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung entrichtete. Die Entscheidung sieht es nicht als Aufgabe der Gerichte sondern als Aufgabe des Gesetzgebers an, darüber zu entscheiden, ob dem Strafgefangenen im offenen Strafvollzug anstelle der bisherigen Ansprüche gegen die Landesjustizverwaltung uneingeschränkt Ansprüche auf Krankenhilfe eingeräumt werden sollen.
Der Gesetzgeber hat im Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) den Krankenversicherungsschutz des Freigängers geregelt. Nach § 16 Abs 1 Nr 4 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V), das als Art 1 des GRG erlassen wurde, ruht der Leistungsanspruch des Versicherten, gegen den eine Freiheitsstrafe vollzogen wird, nur, soweit er als Gefangener Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz (StVollzG) hat oder sonstige Gesundheitsfürsorge erhält. Nach § 62a StVollzG idF durch Art 51 Nr 5 GRG ruht der Anspruch des Strafgefangenen auf Leistungen nach den §§ 57 bis 59 StVollzG (Gesundheitsuntersuchungen, Krankenbehandlung, Versorgung mit Hilfsmitteln), solange der Gefangene aufgrund eines freien Beschäftigungsverhältnisses (§ 39 Abs 1) krankenversichert ist. Der in § 16 Abs 1 Nr 4 SGB V (im Vergleich zu § 216 Abs 1 Nr 1 RVO) angefügte letzte Halbsatz „soweit die Versicherten als Gefangene Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz haben oder sonstige Gesundheitsfürsorge erhalten”) soll berücksichtigen, daß Strafgefangenen gemäß § 39 Abs 1 StVollzG gestattet werden kann, ein freies Beschäftigungsverhältnis einzugehen, und daß sie deshalb krankenversichert sein können; die Einfügung von § 62a StVollzG und die Änderung des § 78 StVollzG lassen für diese Gefangenen den Anspruch auf Leistungen nach den §§ 57, 58, 61, 76 und 77 StVollzG ruhen; dementsprechend nimmt Nr 4 des § 16 diese Gefangenen von dem Ruhen der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung aus (BR-Drucks 200/88 S 165 zu § 16 Abs 1 Nr 4).
Die getroffene Regelung bringt klar zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber die Tätigkeit eines Freigängers außerhalb der Anstalt bei einem privaten Unternehmer als ein im Grundsatz versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis (§ 7 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften – -SGB IV-) ansieht. Die Versicherungspflicht der vom Freigänger erstrebten Beschäftigung kann deswegen weder im Hinblick auf die auch während einer Beschäftigung als Freigänger fortbestehende Arbeitspflicht (§ 41 Abs 1 StVollzG) angezweifelt werden (so aber Mrozynski SGB 1990, 315, 316), noch im Hinblick auf die von der Beklagten hervorgehobenen Besonderheiten, daß der Arbeitsvertrag des Freigängers der Zustimmung des Direktors der Strafvollzugsanstalt bedarf, daß der Strafvollzugsbehörde ein Recht zur sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorzubehalten und die Überweisung des Arbeitsentgelts auf ein Anstaltskonto vorzusehen ist.
Diese Besonderheiten schließen es nicht aus, den Freigänger in der Zeit zwischen dem Wirksamwerden der Erlaubnis zum Freigang und der Aufnahme einer Beschäftigung als arbeitslos anzusehen. Arbeitslos ist nach § 101 AFG ein Arbeitnehmer, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine kurzzeitige Beschäftigung ausübt. Arbeitnehmer in diesem Sinne ist, wer ohne Arbeitslosigkeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang ausüben würde; § 101 AFG verlangt – anders als der zuvor geltende § 75 Abs 1 AVAVG – nicht, daß der Arbeitslose in der Hauptsache berufsmäßig als Arbeitnehmer tätig sein muß (BSGE 41, 229 = SozR 4100 § 101 Nr 1). Die Überlegung, der Strafgefangene werde erst mit der Aufnahme der ersten Beschäftigung als Freigänger zum (berufsmäßigen) Arbeitnehmer und könne deswegen vor Aufnahme der ersten Freigängerbeschäftigung nicht arbeitslos sein, verkennt, daß die Versicherungspflicht der sonst ausgeübten Beschäftigung ausreicht.
Auch die weitere Leistungsvoraussetzung der Verfügbarkeit hat das LSG trotz der aufgezeigten Besonderheiten der Beschäftigung eines Freigängers rechtsfehlerfrei als gegeben angesehen. Objektiv verfügbar war nach § 103 Abs 1 Nr 1 AFG idF durch das Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) vom 18. August 1980 (BGBl I S 1461, 2218), die auf die hier streitige Zeit von März und April 1985 anzuwenden ist, wer eine längere als kurzzeitige zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf. Nach der Änderung durch das 8. Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (8. AFG-ÄndG) vom 14. Dezember 1987 (BGBl I S 2602) ist mit Wirkung vom 1. Januar 1988 objektiv verfügbar, wer eine zumutbare, nach § 168 AFG die Beitragspflicht begründende oder allein nach § 169 Nr 2 AFG beitragsfreie Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf. Insoweit ist nicht zweifelhaft, daß die Beschäftigung eines Strafgefangenen als Freigänger außerhalb der Anstalt ein Arbeitsverhältnis ist (zur Täuschung über den Freigängerstatus vgl BAG AP Nr 32 zu § 123 BGB), das der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung unterliegt.
Die Beschäftigung des Freigängers entsprach den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes, wie das LSG unter Berücksichtigung der im Falle des Klägers gegebenen Beschränkungen festgestellt hat. Dabei handelt es sich um die Feststellung einer Tatsache (vgl BSG SozR 4100 § 103 Nr 23), die von der Beklagten nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen wird. Die Beklagte meint lediglich, daß die Üblichkeit erst nach Aufnahme einer solchen Beschäftigung angenommen werden dürfe. Die Auffassung der Beklagten läuft darauf hinaus, daß die Üblichkeit derselben Freigängerarbeit für denselben Bereich und denselben Zeitraum für einen Gefangenen ohne vorangegangene Beschäftigung als Freigänger zu verneinen, für einen Gefangenen nach einer Beschäftigung als Freigänger aber zu bejahen wäre. Damit wird letztlich nicht die Feststellung der Üblichkeit angegriffen, sondern eine frühere Freigängerbeschäftigung als weitere Voraussetzung des Anspruchs auf Alg gefordert. Ob sich das Vorbringen der Beklagten, der Freigängerstatus werde abhängig von den Regelungen der einzelnen Justizvollzugsanstalten regelmäßig nach vier bis sechs Wochen entzogen, wenn in diesem Zeitraum keine Arbeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis gefunden wurde, im Rahmen der tatsächlichen Feststellungen des LSG hält, kann dahinstehen. Insoweit genügt, daß der Kläger in der gesamten streitigen Zeit den Freigängerstatus besaß.
Desgleichen steht die auch während des Freigangs fortbestehende Arbeitspflicht des Strafgefangenen der Annahme der Verfügbarkeit nicht entgegen. Sie schließt die Aufnahme einer beitragspflichtigen Beschäftigung als Freigänger nicht aus. Das gilt für Strafgefangene, die zuvor eine Freigängerbeschäftigung ausgeübt haben, und für solche, die erstmalig eine solche Beschäftigung aufnehmen wollen, in gleichem Maße. Ob objektive Verfügbarkeit auch dann bejaht werden könnte, wenn der Kläger in der streitigen Zeit in Erfüllung der Arbeitspflicht im Gefängnis Gefangenenarbeit verrichtet hätte, braucht der Senat nicht abschließend zu entscheiden. Der Tatbestand, daß der Zwang zu einer bestimmten Tätigkeit bei der Vermittlung einer Beschäftigungsmöglichkeit entfallen wäre, kann nicht ohne weiteres dem Tatbestand gleichgestellt werden, daß der Arbeitslose eine freiwillig übernommene Tätigkeit, die nach ihrem Umfang eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausschließt, im Falle eines Arbeitsangebots aufgeben will (hierzu BSG SozR 4100 § 103 Nr 42). Es wäre jedoch widersprüchlich, wenn die Zeit einer beitragspflichtigen Gefangenenarbeit in der Anstalt, die anwartschaftsbegründend wirkt, bei bestehendem Freigängerstatus zugleich als Leistungsbezugszeit in Betracht käme. Das kann aber offen bleiben. Das LSG hat zwar die Lebensverhältnisse des Klägers während der streitigen Bezugszeit nicht im einzelnen festgestellt, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit eigener Bemühungen um eine Arbeitsstelle. Gleichwohl konnte der Senat den Feststellungen zur Verfügbarkeit entnehmen, daß der Kläger in der streitigen Bezugszeit keine beitragspflichtige Gefangenenarbeit verrichtet hat, zumal eine in den Beiakten enthaltene Arbeitsbescheinigung vom 20. August 1985 Beiträge nur bis zum 28. Februar 1985 und nicht für die streitige Zeit vom 1. März bis zum 30. April 1985 ausweist.
Auch die Auffassung der Beklagten, daß die subjektive Verfügbarkeit nur durch die vorherige Ausübung einer Freigängerarbeit nachzuweisen sei, läuft im Ergebnis auf eine im Gesetz nicht vorgesehene, zusätzliche Anspruchsvoraussetzung hinaus. Die Vorinstanzen haben somit der Klage zu Recht entsprochen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 1172837 |
BSGE, 269 |
StV 1991, 433 |