Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Die 1964 geborene Klägerin ist Mitglied der beklagten Pflegekasse. Sie leidet an einem frühkindlichen Hirnschaden mit schweren Funktionsausfällen des Stütz- und Bewegungsapparates durch spastische Lähmung, deutlicher geistiger Zurückgebliebenheit, Stummheit sowie Neigung zu aggressiven Ausbrüchen. Sie lebt bei ihrer Mutter, mit der sie sich mittels einer Schreibtafel verständigt. Bis 31. März 1995 bezog die Klägerin Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53ff. Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V).
Im Dezember 1994 beantragte die Klägerin Pflegeleistungen (häusliche Pflegehilfe und Pflegegeld als Kombinationsleistung) gemäß der Pflegestufe III nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Nach Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen Niedersachsen (MDKN) bewilligte die Beklagte ab 1. April 1995 Pflegeleistungen lediglich gemäß Pflegestufe II (Bescheid vom 16. August 1995 und Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 1995). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteile vom 25. April 1996 bzw. 10. Juni 1997) : Nach Auffassung des LSG fehlt es für die Einstufung in die Pflegestufe III an der Regelmäßigkeit und Dauerhaftigkeit des nächtlichen Hilfebedarfs; die ständige Rufbereitschaft der Mutter reiche allein nicht aus.
Mit der Revision wird die Verletzung von § 15 Abs. 1 (Satz 1) Nr. 3 SGB XI gerügt. Nach dessen Wortlaut und den Gesetzesmaterialien reiche eine notwendige ständige Bereitschaft der Pflegeperson aus. Es müsse genügen, wenn der Pflegebedarf über denjenigen der Pflegestufe II nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI hinausgehe. Ein Pflegeeinsatz zumindest in jeder zweiten Nacht könne nicht verlangt werden.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. Juni 1997 und das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. April 1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. August 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit ab 1. April 1995 Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet; das LSG hat einen Anspruch der Klägerin auf Leistungen der Pflegeversicherung wegen Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) zu Recht verneint.
Die Klägerin, die bis zum Inkrafttreten des die häusliche Pflege betreffenden Leistungsrechts im SGB XI am 1. April 1995 Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53ff. SGB V erhielt, wurde gemäß Art 45 Abs. 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vom 26. Mai 1994 (BGBl. I, 1014 - PflegeVG) mit Wirkung von diesem Zeitpunkt an in die Pflegestufe II eingestuft und erhielt Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XI in dem Umfang, der für Pflegebedürftige i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI vorgesehen ist. Die versicherungsrechtlichen Leistungsvoraussetzungen nach § 33 SGB XI sind wegen der Übergangsvorschriften nicht weiter zu prüfen. Der Antrag, die Klägerin der Pflegestufe III zuzuordnen und ihr Leistungen zu gewähren, die für Pflegebedürftige i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI vorgesehen sind, ist unbegründet, da Pflegebedürftigkeit in dem nach dieser Regelung erforderlichen Umfang nicht vorliegt (Art 45 Abs. 1 Satz 2 PflegeVG).
Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI (idF des 1. SGB XI-Änderungsgesetzes ≪1. SGB XI-ÄndG≫ vom 14. Juni 1996, BGBl. I S. 830) setzt die Zuordnung eines Pflegebedürftigen zur Pflegestufe III voraus, daß er bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedarf, und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt werden. Zusätzlich wird (nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI, i.d.F. des 1. SGB XI-ÄndG) vorausgesetzt, daß der Zeitaufwand, den eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, "wöchentlich im Tagesdurchschnitt" (gemeint ist: täglich im Wochendurchschnitt) fünf Stunden beträgt, wobei auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen müssen. Die in der Zeit seit Inkrafttreten des Leistungsrechts der Pflegeversicherung am 1. April 1995 bis zum Inkrafttreten des 1. SGB XI-ÄndG (vgl. dessen Art 8 Abs. 1) geltende ursprüngliche Fassung des SGB XI enthielt die zuletzt genannte Voraussetzung noch nicht. § 15 Abs. 3 SGB XI ermächtigte seinerzeit lediglich die Spitzenverbände der Pflegekassen bzw. das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, den in den einzelnen Pflegestufen jeweils mindestens erforderlichen zeitlichen Pflegeaufwand in den Richtlinien nach § 17 SGB XI bzw. in der Verordnung nach § 16 SGB XI zu regeln. Die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien ≪PflRi≫) enthielten in ihrer ursprünglichen Fassung vom 7. November 1994 bezüglich des Mindestzeitaufwands bei der Pflegestufe III die Voraussetzung, der wöchentliche Zeitaufwand, den eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung und pflegeunterstützende Maßnahmen benötige, müsse im Tagesdurchschnitt mindestens fünf Stunden betragen, wobei der pflegerische Aufwand gegenüber dem hauswirtschaftlichen Aufwand eindeutig das Übergewicht haben müsse. Die in § 16 SGB XI vorgesehene Verordnung ist nicht erlassen worden.
Für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ist sowohl die ursprüngliche Fassung des § 15 SGB XI (für die Zeit vom 1. April 1995 bis 24. Juni 1996) als auch (für die nachfolgende Zeit) die durch das 1. SGB XI-ÄndG geänderte Fassung maßgebend. Ob § 15 Abs. 3 SGB XI in seiner ursprünglichen Fassung verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprach, könnte zweifelhaft sein, weil er die Festlegung einer wesentlichen Tatbestandsvoraussetzung, von der die Zugehörigkeit zum leistungsberechtigten Personenkreis und die für den Umfang der Leistungen aus der Pflegeversicherung maßgebende Zuordnung zu den Pflegestufen abhing, delegierte, wobei außerdem noch zweifelhaft ist, ob die Spitzenverbände der Pflegekassen nach dem Grundgesetz (GG) zur Normsetzung befugt sind. Das Gesetz ließ in § 15 Abs. 3 SGB XI a.F. lediglich erkennen, daß die Annahme von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen überhaupt von der Erfüllung zeitlicher Mindestvoraussetzungen abhängen sollten. Der Gesetzgeber hat aber das Regelungsdefizit durch die Neufassung des § 15 Abs. 3 SGB XI auch für die zurückliegende Zeit ausgefüllt, weil diese Regelung deutlich macht, daß die im Vergleich dazu für die Betroffenen großzügigeren Regelungen des Mindestzeitbedarfs in den PflRi jedenfalls insoweit von seinem Willen getragen waren. Eine Zuordnung der Klägerin zur Pflegestufe III kommt nach der alten und neuen Fassung des Gesetzes nicht in Betracht, weil es an der in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI enthaltenen Voraussetzung eines "rund um die Uhr, auch nachts" bestehenden Hilfebedarfs fehlt. Daß nach den Feststellungen des LSG die sonstigen zeitlichen Voraussetzungen erfüllt sind, reicht nicht aus.
§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI läßt allerdings nicht ohne weiteres erkennen, wann die Voraussetzung eines nächtlichen Hilfebedarfs erfüllt ist, insbesondere welcher Art die Hilfeleistung sein muß. Fraglich ist vor allem, ob es ausreicht, daß die krankheits- oder behinderungsbedingten Defizite eine ständige Einsatzbereitschaft von Pflegepersonen (sog Rufbereitschaft), auch nachts, erforderlich machen, oder ob es zu einem Hilfeeinsatz kommen muß. Im vorliegenden Fall ist dazu vom LSG festgestellt worden, daß die Klägerin etwa einmal wöchentlich nachts zur Toilette begleitet werden muß, und während der Menstruation etwa in vier bis fünf Nächten ein Bindenwechsel vorgenommen werden muß. Außerdem muß die Klägerin während nächtlicher Unruhephasen, die etwa einmal jährlich auftreten und dann zwei bis dreieinhalb Monate anhalten, von ihrer Mutter beruhigt werden.
Auch die Begründung des Regierungsentwurfs läßt nicht deutlich erkennen, ob die Zuordnung zur Pflegestufe III davon abhängen sollte, daß auch ein nächtlicher Pflegeeinsatz bestimmten Umfangs erforderlich ist. Sie hält eine Zuordnung zur Pflegestufe III schon dann für gerechtfertigt, wenn eine ununterbrochene Bereitschaft der Pflegeperson zur Hilfeleistung erforderlich ist und der Pflegebedürftige nicht allein gelassen werden kann. Bei psychisch kranken, dementen und hirnverletzten Menschen seien die Voraussetzungen dann erfüllt, wenn der Bedarf an Beaufsichtigung oder Anleitung so groß sei, daß der Pflegebedürftige rund um die Uhr, d.h. auch in der Nacht, beaufsichtigt oder angeleitet werden müsse (BT-Drucks 12/5262, S. 98 zu Nr. 3). Die Erwähnung der Hilfeleistungen "Beaufsichtigung" und "Anleitung" läßt immerhin erkennen, daß von einer Aktivität der Pflegeperson ausgegangen wurde, die über ein bloßes Bereitstehen hinausgeht.
Im Schrifttum wird die Begründung des Gesetzentwurfs von Jung (Die neue Pflegeversicherung, 1995, RdNr 207 bis 209) und Udsching (SGB XI, 1995/1996, § 15 RdNr 8) ohne weitere Erläuterung übernommen. Wilde (in: Hauck/Wilde, SGB XI, Stand V/97, § 15 RdNr 14) vertritt die Auffassung, das Erfordernis einer fünfstündigen Mindestpflegezeit in der Pflegestufe III verdeutliche, daß der konkrete Pflegebedarf nicht ununterbrochen bestehen müsse, sondern lediglich zu bestimmten Zeiten; dies jedoch kontinuierlich über den ganzen Tag. Hierfür beruft er sich auf das Tatbestandsmerkmal "rund um die Uhr". Da auch ein Pflegebedürftiger nachts aufgrund des natürlichen Lebensrhythmus schlafe, seien an den nächtlichen Hilfebedarf "keine übertriebenen" Anforderungen zu stellen. Erforderlich sei (lediglich) die ununterbrochene Bereitschaft der Pflegeperson zur Hilfeleistung. Auch Sattler (SGb 1996, 530, 532) will die Erforderlichkeit einer Rufbereitschaft zur Sicherstellung der Grundpflege grundsätzlich ausreichen lassen. Maßgeblich sei, ob eine verantwortungsbewußte Pflegeperson den Pflegebedürftigen wegen des zu erwartenden Pflegebedarfs nachts allein lassen dürfe oder aber präsent sein müsse.
Auch die PflRi stellten in ihrer ursprünglichen Fassung auf die Erforderlichkeit einer ständigen Einsatzbereitschaft der Pflegeperson und nicht auf einen tatsächlich regelmäßig anfallenden Hilfeeinsatz während der Nacht ab: Ziff 4.1.3 hatte i.d.F. vom 7. November 1994 folgenden Inhalt: "Schwerstpflegebedürftigkeit liegt vor, wenn der Hilfebedarf so groß ist, daß jederzeit eine Pflegeperson unmittelbar erreichbar sein muß, weil der konkrete Hilfebedarf jederzeit und Tag und Nacht anfallen kann". In der aktuellen Fassung vom 21. Dezember 1995 lautet Ziff 4.1.3 der PflRi dagegen: "Schwerstpflegebedürftigkeit liegt vor, wenn der Hilfebedarf so groß ist, daß jederzeit eine Pflegeperson unmittelbar erreichbar sein muß, weil der konkrete Hilfebedarf jederzeit gegeben ist und Tag und Nacht anfällt".
In den auf der Grundlage von § 53a Satz 1 Nr. 2 SGB XI erlassenen Begutachtungs-Richtlinien (vom 21. März 1997), die eine einheitliche Begutachtung der Pflegebedürftigen durch den MDK sicherstellen sollen, sind die an die Annahme von nächtlichem Pflegebedarf zu stellenden Anforderungen gegenüber der für die Begutachtung zuvor maßgebenden Begutachtungsanleitung verschärft worden. Während nach der Begutachtungsanleitung eine ununterbrochene Bereitschaft der Pflegeperson zur Hilfeleistung ausreichen sollte, wenn Hilfebedarf nachts zu unvorhergesehenen Zeiten regelmäßig zu erwarten war und konkret mit gewisser Regelmäßigkeit auch bisher Hilfe geleistet worden ist (Begutachtungsanleitung, S. 19 zu 1.4), verlangen die Begutachtungs-Richtlinien (unter 1.4), daß ein nächtlicher Grundpflegebedarf bei einer oder mehreren Verrichtungen jede Nacht anfällt und hierdurch die Nachtruhe der Pflegenden unterbrochen wird. Ausnahmsweise soll ein nächtlicher Grundpflegebedarf auch dann anerkannt werden können, wenn in den letzten vier Wochen einmal oder höchstens zweimal in der Woche nächtliche Hilfeleistungen nicht anfielen und Hilfebedarf mindestens in diesem Umfang voraussichtlich auf Dauer bestehen wird.
Die §§ 17 und 53a SGB XI enthalten jedoch keine normative Ermächtigung der Spitzenverbände, die gesetzlichen Regelungen zu den Voraussetzungen von Pflegebedürftigkeit bzw. der Zuordnung zu den Pflegestufen mit bindender Wirkung für außerhalb der Verwaltung stehende Personen oder die Gerichte zu ergänzen. Die besonderen Voraussetzungen, unter denen das Bundessozialgericht (BSG) im Hinblick auf die vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen nach § 92 Abs. 1 SGB V zu beschließenden Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten eine Bindungswirkung von Richtlinien auch gegenüber den Versicherten angenommen hat (BSGE 78, 70, 76 = SozR 3-2500 § 92 Nr. 6), liegen im Bereich der Pflegeversicherung nicht vor. Die gesetzlich vorgesehenen PflRi und die Begutachtungs-Richtlinien haben schon deshalb keinen Rechtssatzcharakter, weil das Gesetz eine Verbindlichkeit im Außenverhältnis zu den Versicherten nicht anordnet. Verfassungsfragen, die sich beim Vorhandensein einer Bindungsanordnung stellen könnten, sind nicht weiter zu erörtern. Rechtswirkungen im Außenverhältnis kommen den Richtlinien allein über Art 3 GG zu, weil sich die Verwaltungspraxis an ihnen orientiert. Soweit sich die Richtlinien innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens halten, sind sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten (vgl. BSGE 73, 142, 150 = SozR 3-2500 § 53 Nr. 4).
In diesem Sinne erweisen sich die Richtlinien in ihrer neueren Fassung - soweit hier von Belang - als gesetzeskonform und sachgerecht. Der Wortlaut des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI ("Pflegebedürftige, … die … bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen … ") steht der in den Richtlinien getroffenen Konkretisierung der Voraussetzung "nächtlicher Hilfebedarf" nicht entgegen. Der Wortlaut spricht sogar dafür, daß die Regelung eine regelmäßig auch nachts anfallende Hilfe bei Verrichtungen der Grundpflege fordert und eine nur gelegentlich anfallende Hilfe während der Nacht auch dann nicht ausreicht, wenn zusätzlich eine ständige Einsatzbereitschaft einer Hilfsperson erforderlich ist. Hierfür spricht ferner, daß § 14 Abs. 3 SGB XI unter dem in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI verwendeten Begriff "Hilfe" nur bestimmte Maßnahmen versteht, nämlich Unterstützung, teilweise oder vollständige Übernahme der Verrichtung sowie Beaufsichtigung und Anleitung. Die bloße Verfügbarkeit bzw. Einsatzbereitschaft stellt demgegenüber nur eine Voraussetzung für die Möglichkeit der Hilfeleistung dar, die lediglich eine gewisse zeitliche und örtliche Gebundenheit der Pflegeperson mit sich bringt, ihr aber erlaubt, daneben noch andere Dinge zu verrichten oder zu schlafen. Sie unterscheidet sich damit deutlich von der Beaufsichtigung und Anleitung, die die Pflegeperson zeitlich und örtlich voll binden, und erst recht von der körperlichen Unterstützung der Verrichtungen, die die Pflegeperson zudem noch physisch belastet.
Gegen diese Auslegung spricht auch nicht, daß das Erfordernis einer regelmäßig tatsächlich anfallenden nächtlichen Hilfeleistung in § 36 Abs. 4 Satz 1 SGB XI ausdrücklich nur bei der Umschreibung der besonderen Voraussetzungen für erhöhte Leistungen wegen Vorliegens eines Härtefalls verlangt wird. Danach können die Pflegekassen in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten Pflegebedürftigen der Pflegestufe III erhöhte Leistungen gewähren, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt, beispielsweise wenn im Endstadium von Krebserkrankungen "regelmäßig mehrfach auch in der Nacht Hilfe geleistet werden muß". § 36 Abs. 4 Satz 1 SGB XI stellt damit auf die tatsächliche nächtliche Hilfeleistung ab; das besonders hohe Maß des Hilfebedarfs wird zusätzlich dadurch beschrieben, daß beispielhaft ein Krankheitsbild erwähnt wird, das typischerweise einen ganz außergewöhnlich hohen Pflegeaufwand bedingt. Aus einem Vergleich des Wortlauts von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI einerseits und § 36 Abs. 4 Satz 1 SGB XI andererseits kann nicht der Schluß gezogen werden, ein nachts auch tatsächlich anfallender Hilfebedarf werde nur als Voraussetzung für die Annahme eines Härtefalls, nicht aber für die Zuordnung zur Pflegestufe III gefordert. Die graduelle Abstufung zur Pflegestufe III bleibt auch dann gewahrt, wenn hier ebenfalls eine tatsächliche Hilfeleistung mindestens einmal pro Nacht (in der Regel) verlangt wird. Denn es bedeutet für die Belastung einer Pflegeperson einen erheblichen Unterschied, ob sie nur einmal oder mehrfach pro Nacht den Schlaf unterbrechen oder sogar gänzlich auf Nachtruhe verzichten muß. Dem Erfordernis einer deutlichen Abstufung zum Härtefall korrespondiert auf der anderen Seite aber auch eine deutliche Abstufung zur Pflegestufe II, weil die Leistungen bei der Pflegestufe III erheblich höher sind als bei der Pflegestufe II. Das Pflegegeld erhöht sich von 800 DM auf 1.300 DM, der Gesamtwert für die Pflegesachleistungen von 1.800 DM auf 2.800 DM (vgl. §§ 37 Abs. 1, 38 Abs. 3 SGB XI). Würde man bereits eine nächtliche Rufbereitschaft ausreichen lassen, um das Merkmal der Hilfe zur Nachtzeit zu bejahen, wäre eine klare Abgrenzung zu den übrigen Pflegestufen kaum möglich. Denn wenn Hilfe- oder Rufbereitschaft generell als Hilfeleistung gewertet würde, müßte sie auch dem zeitlichen Umfang nach voll berücksichtigt werden. Das hätte zur Folge, daß die zeitlichen Mindestvoraussetzungen der täglichen Inanspruchnahme von Hilfeleistungen, die von 90 Minuten in der Pflegestufe I über drei Stunden in der Pflegestufe II bis zu fünf Stunden in der Pflegestufe III betragen, weitgehend schon durch Zeiten der Rufbereitschaft erfüllt werden könnten. Die damit jeweils verbundene Belastung der Pflegeperson würde die deutliche Leistungserhöhung in den höheren Pflegestufen schwerlich rechtfertigen. Eine nachvollziehbare Leistungsdifferenzierung ergibt sich nur, wenn die Pflegeperson bei den im Gesetz aufgeführten Verrichtungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung zumindest in der Weise tätig wird, daß sie dazu konkret anleitet oder die Durchführung überwacht; dies trägt im übrigen, wie dargelegt, allein der Definition des Begriffs Hilfe in § 14 Abs. 3 SGB XI Rechnung. Die jeweilige zeitliche Dauer der Beanspruchung ist in diesen Fällen von solchem Gewicht, daß sie unterschiedlich hohe Leistungen rechtfertigt.
Für eine enge Auslegung des Begriffs "nächtlicher Hilfebedarf" spricht schließlich auch das Anliegen des Gesetzgebers, wegen des beschränkten finanziellen Rahmens die Anforderungen an die Solidargemeinschaft überschaubar zu halten. Angesichts des begrenzten Finanzbudgets, das für die Pflegeversicherung zur Verfügung gestellt werden konnte, war eine umfassende Versorgung von Pflegefällen aus der Sicht des Gesetzgebers allein aus der Pflegeversicherung nicht durchführbar. Die Belastbarkeit der Sozialversicherungs-Beitragszahler, insbesondere der Arbeitgeber, mit zusätzlichen Zahlungspflichten zur Abdeckung eines Risikos, das der einzelne zuvor (mit Ausnahme der Vorbereitungsphase vom 1. Januar 1989 bis 31. März 1995 in Gestalt der §§ 53ff. SGB V) vollständig aus eigenen Mitteln zu tragen hatte, ist im Gesetzgebungsverfahren eingehend diskutiert worden (vgl. BT-Drucks 12/5262, S. 85ff., 175 ff; dazu auch Schmähl, Finanzierung sozialer Sicherung unter veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, SozVers 1994, 169 = ZfS 1994, 241; ders, Zur Finanzierung einer Pflegeversicherung in Deutschland, DRV 1993, 358). Im Gegensatz zu allen anderen Zweigen der Sozialversicherung wurde der Beitragssatz im Gesetz selbst festgeschrieben (zunächst auf 1 vH, ab 1. Juli 1996 auf 1, 7 vH, vgl. § 55 Abs. 1 SGB XI). Der Gesetzgeber hat auch an anderer Stelle im Gesetz deutlich gemacht, daß er der dauerhaften Finanzierbarkeit von Pflegeleistungen zu vertretbaren Beitragssätzen überragende Bedeutung einräumt (§ 70 SGB XI ≪Grundsatz der Beitragssatzstabilität≫, vgl. BT-Drucks 12/5262, S. 133 zu § 79 des Entwurfs).
Die Orientierung der Leistungsvoraussetzungen (auch) an finanziellen Vorgaben kann grundsätzlich nicht als sachwidrig angesehen werden, zumal das Pflegerisiko in erheblichem Umfang auch von anderen Sozialleistungssystemen, etwa der gesetzlichen Unfallversicherung und der sozialen Entschädigung abgedeckt wird. Die von der Pflegeversicherung nicht erfaßten Bereiche des Pflegerisikos fallen letztlich in den Verantwortungsbereich der Sozialhilfe, wenn der einzelne nicht in der Lage ist, die für Pflegemaßnahmen erforderlichen Aufwendungen aus eigenen Mitteln aufzubringen. Zwar ist durch das PflegeVG mit § 68a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eine Bindung der Sozialhilfeträger an die Entscheidungen der Pflegekassen eingeführt worden; diese geht jedoch nur so weit, wie die Entscheidung der Pflegekasse auf Tatsachen beruht, die auch im Rahmen der Entscheidung über die sozialhilferechtliche Hilfe zur Pflege zu berücksichtigen sind (vgl. hierzu im einzelnen: Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl 1997, § 68a RdNrn 3ff.).
Nach den Feststellungen des LSG, das insoweit von den Angaben der Mutter ausgegangen ist, besteht bei der Klägerin kein die genannten Anforderungen erfüllender nächtlicher Hilfebedarf. Die Hilfe bei Verrichtungen des Grundbedarfs fällt nachts nicht mit der erforderlichen Regelmäßigkeit an. Der Fall gibt keine Veranlassung, näher darauf einzugehen, was unter Nachtzeit zu verstehen ist und ob, ggf auch wie häufig, es an einem nächtlichen Hilfeerfordernis auch fehlen darf, wie die Begutachtungs-Richtlinien es unter 1.4 regeln. Weil das Gesetz einen täglichen Hilfebedarf voraussetzt, kann es keinesfalls ausreichen, wenn die Zahl der Nächte, in denen keine Hilfe erforderlich ist, überwiegt, wie es bei der Klägerin der Fall ist. Da neben den Toilettengängen auch die monatlich nur an einigen Tagen erforderlichen nächtlichen Hilfeleistungen wegen der Menstruation die zeitlichen Voraussetzungen, die § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI an einen nächtlichen Hilfebedarf stellt, nicht erfüllen, bedurfte die Frage, ob Maßnahmen der Monatshygiene überhaupt zu den Verrichtungen des Grundbedarfs zu zählen sind, ebenfalls keiner Entscheidung.
Auch wegen der jährlich einmal auftretenden Unruhezustände der Klägerin rechtfertigt sich keine Höherstufung in die Pflegestufe III zumindest für die Zeiträume, in denen sie auftreten. Es braucht deshalb nicht festgestellt zu werden, wann genau im Anspruchszeitraum sie tatsächlich aufgetreten sind und welche Maßnahmen im einzelnen erforderlich waren. Offenbleiben kann auch, ob jedwede Einschlafhilfe der Grundverrichtung des Zu-Bett-Gehens zugeordnet werden könnte. Denn es fehlt jedenfalls an der notwendigen Dauer dieser Zustände von mindestens sechs Monaten. Das Gesetz verlangt diese Dauer zwar ausdrücklich nur für die Erfüllung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit (§ 14 Abs. 1 SGB XI), nicht auch für die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen. § 15 SGB XI baut aber auf § 14 SGB XI auf, und es gibt keinen sachlichen Grund, für die Einstufung in die Pflegestufe I eine Dauer der Pflegebedürftigkeit von mindestens sechs Monaten zu verlangen, für die Einstufung in eine höhere Pflegestufe hingegen nicht (so Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen vom 26. September 1994, zitiert von Trenk-Hinterberger in Wannagat, SGB XI, § 15 RdNr 27 mit ablehnender Stellungnahme; wie dieser Wilde in Hauck/Wilde, SGB XI, Stand V/97, K § 14 RdNr 24). Dem steht nicht entgegen, daß die Härtefallregelung des § 36 Abs. 4 SGB XI eine Leistungserhöhung bei außergewöhnlich hohem Pflegeaufwand etwa im Endstadium von Krebserkrankungen ermöglicht, also für einen Zeitraum, der häufig sechs Monate unterschreiten dürfte. Dies ist als Ausnahme zu verstehen, weil mit einer Besserung des Zustands nicht zu rechnen ist, wie auch allgemein eine Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten die Annahme von Pflegebedürftigkeit nicht hindert (vgl. BT-Drucks 12/5262 S. 96 zu § 12 Abs. 1; Udsching, SGB XI, 1995/1996 § 14 RdNr 4; Wilde a.a.O.). Ist indessen mit einer kurzfristigen Besserung zu rechnen, wäre eine zeitnahe Kontrolle des jeweiligen Gesundheitszustands durch die Verwaltung unter Einschaltung des MDK erforderlich, um eine ungerechtfertigte Leistungsausweitung zu vermeiden. Das grundsätzliche Erfordernis eines Dauerzustands von mindestens sechs Monaten ist geeignet, unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden. Dies hat der Gesetzgeber auch an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht. Nach § 38 Satz 3 SGB XI ist der Pflegebedürftige an seine Entscheidung, in welchem Umfang er Sach- bzw. Geldleistungen in Anspruch nehmen will, ebenfalls für die Dauer von sechs Monaten gebunden.
Weil die Zeiten zwischen den Unruhezuständen der Klägerin jeweils mehr als sechs Monate betragen, ist auch keine Zusammenrechnung der Zeiten vorzunehmen und nicht auf die Frage einzugehen, ob dies bei kürzeren Zeitabständen geboten wäre.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 518231 |
ZAP 1998, 1086 |
NZS 1998, 479 |
SGb 1999, 303 |
SozSi 1998, 439 |
ZfSSV 1998, 149 |