Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz. arbeitnehmerähnliche Tätigkeit. Handlungstendenz. Arbeitsplatzsuche. Vorstellungsreiten
Leitsatz (amtlich)
Zum Versicherungsschutz wegen Arbeitsunfalls nach § 539 Abs 2 RVO, wenn die Verletzte vornehmlich eigene Interessen verfolgt.
Orientierungssatz
1. Es reicht für einen Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO nicht aus, daß die einzelne Verrichtung losgelöst von den sie tragenden Umständen dem Unternehmen nützlich und ihrer Art nach üblicherweise sonst dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugänglich ist (vgl BSG vom 25.8.1970 2 RU 51/68 = BSGE 31, 275, 277). Ausschlaggebend für die Bejahung des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 2 RVO ist die mit dem - objektiv arbeitnehmerähnlichen - Tun verbundene Handlungstendenz.
2. Die Eingrenzung des Versicherungsschutzes in § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO läuft dem Recht auf freie Berufswahl (Art 12 Abs 1 GG) und dem Gleichheitsgebot des Art 3 Abs 1 GG nicht zuwider.
3. Zum Unfallversicherungsschutz einer Pferdewirtin beim Vorreiten zum Zwecke der Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses.
Normenkette
RVO § 539 Abs 2; RVO § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b; GG Art 12 Abs 1; GG Art 3 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.02.1986; Aktenzeichen L 15 U 18/84) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 22.05.1984; Aktenzeichen S 1 U 35/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin bei ihrem Unfall am 25. August 1982 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Das Sozialgericht -SG- (Urteil vom 22. Mai 1984) hat dies verneint; das Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 4. Februar 1986) hat Versicherungsschutz bejaht und die Revision zugelassen.
Die im Unfallzeitpunkt fast 23 Jahre alte Klägerin ist gelernte Pferdewirtin (Rennreiterin). Sie bezog seinerzeit Arbeitslosenhilfe. Auf ihre Eigeninitiative hin kam es am Unfalltage zu einem Vorstellungsreiten auf der Rennbahn in Mülheim/Ruhr. Zunächst beteiligte sie sich an der Säuberung des Pferdestalles und bereitete dann das ihr zugewiesene Tier zum Ausreiten vor. Nachdem sie dem Bewegen der ersten drei Pferde zugesehen hatte, ritt sie mit ihrer Gruppe vom Stall zur Rennbahn, wo der Trainer sich ein Bild über ihre Eignung für die Besetzung einer freien Stelle machen wollte. Auf dem Weg dorthin kam es zu dem Unfall, bei dem die Klägerin einen kompletten Unterschenkelbruch davontrug.
Durch ihren Bescheid vom 27. April 1983 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil das Vorstellungsreiten ohne Aufforderung des Arbeitsamtes hätte durchgeführt werden sollen. Außerdem sei es nicht zum Abschluß eines Arbeitsvertrages gekommen.
In dem klageabweisenden Urteil des SG heißt es, die mit der Arbeitssuche zusammenhängenden Verrichtungen seien grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen. Da die Klägerin ausschließlich zu dem Zwecke der Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses geritten sei, sei sie nicht wie eine Versicherte tätig geworden. Das Vorstellungsreiten sei ohne Aufforderung einer Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit erfolgt, so daß auch die Voraussetzungen des § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht gegeben seien. Demgegenüber ist das LSG zu dem Ergebnis gekommen, daß die Klägerin wie eine nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO Beschäftigte tätig geworden und daher gemäß § 539 Abs 2 RVO bei der Beklagten gegen Unfall versichert gewesen sei. Es hat die Beklagte zur Zahlung von vorläufiger Verletztenrente bis zum 24. August 1984 verurteilt. Das LSG hat ausgeführt, die Tätigkeit der Klägerin vor ihrem Unfall sei die gleiche gewesen wie die des im Gestüt angestellten Jockey; sie habe dem Unternehmen gedient und dem Willen des Unternehmers entsprochen.
Die Revision meint, die unfallbringenden Verrichtungen der Klägerin hätten zu einer praxisnahen Bewerbung gehört und seien daher ihren privaten unversicherten Bemühungen um einen Arbeitsplatz zuzurechnen. Der Klägerin sei es um den Nachweis ihrer beruflichen Qualifikation gegangen. Im übrigen ergebe sich aus § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO, daß das Risiko der Arbeitsplatzsuche nur im Rahmen dieser Vorschrift und zu Lasten der Beigeladenen geschützt sei.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Da es nach § 539 Abs 2 RVO nicht auf die Dauer und Häufigkeit von arbeitnehmerähnlichen Verrichtungen ankomme und die Klägerin bis zum Unfall den wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens gedient habe, sei sie versichert gewesen. Es könne ihr nicht zum Nachteil gereichen, daß sie sich aus eigenem Antrieb um einen Arbeitsplatz bemüht habe. Eine anderweitige Auslegung des § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO würde gegen die Art 12 und 3 des Grundgesetzes (GG) verstoßen.
Die Beigeladene beantragt, die Revision der Beklagten, soweit sie gegen die Beigeladene gerichtet ist, zurückzuweisen
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der erkennende Senat ist mit dem SG zu der Überzeugung gekommen, daß die Klägerin am 25. August 1982 keinen Arbeitsunfall erlitt.
Das LSG hat die Beklagte zur Zahlung von Verletztenrente verurteilt, weil die Klägerin gemäß § 539 Abs 2 RVO versichert gewesen sei. Nach dieser Vorschrift sind gegen Arbeitsunfall auch Personen versichert, die wie ein nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO Versicherter - wenn auch nur vorübergehend - tätig werden. Dies erfordert eine ernstliche, dem in Betracht kommenden Unternehmen dienende Tätigkeit, die dem möglichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen und unter solchen Umständen geleistet wird, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist. Die Tätigkeit muß zudem in einem inneren Zusammenhang mit dem unterstützten Unternehmen stehen (BSGE 5, 168; weitere Rechtsprechung s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, Seiten 475m bis 476h).
Das LSG hat festgestellt, daß das unfallbringende Tun dem Unternehmen nützlich war, da die Klägerin den Unternehmer von einem Teil der Arbeit entlastete, die er sonst selbst hätte verrichten oder durch eine Arbeitskraft, zB einen im Gestüt angestellten Jockey, hätte verrichten lassen müssen. Diese Feststellungen, gegen welche im übrigen zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht sind und an die folglich der erkennende Senat gebunden ist (§ 163 SGG), vermögen allein die angefochtene Entscheidung nicht zu tragen. Es reicht für einen Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO nicht aus, daß die einzelne Verrichtung losgelöst von den sie tragenden Umständen dem Unternehmen nützlich und ihrer Art nach üblicherweise sonst dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugänglich ist (BSGE 31, 275, 277). Nicht alles, was einem Unternehmen objektiv nützlich und der Art der Verrichtung nach üblicherweise sonst dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugänglich ist, wird in arbeitnehmerähnlicher Tätigkeit verrichtet. Auch derjenige, welcher ein Gebäude aus niederen Gründen abbricht oder abbrennt, kann damit einem Unternehmen nützlich sein, beispielsweise wenn es den Abbruch des Gebäudes selbst ins Auge gefaßt hatte. Dennoch besteht Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO nicht, weil die Handlungstendenz der betreffenden Person nicht auf die Belange des Unternehmens gerichtet war. Die notwendige Handlungstendenz kommt schon in dem von der Rechtsprechung gebrauchten Begriff der dem Unternehmen "dienlichen" und noch besser in dem der dem Unternehmen "dienenden" Tätigkeit zum Ausdruck (ebenso BGH VersR 1985, 1082, 1083). So hat der Senat in seinem Urteil vom 16. Dezember 1970 (SozR Nr 22 zu § 548 RVO) ausdrücklich als maßgebend angesehen, daß die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignete, dazu "bestimmt" gewesen ist, "den Zwecken seines Unternehmens zu dienen". Der Bundesgerichtshof -BGH- (aaO) spricht von einer fremdwirtschaftlichen Zweckbestimmung, der die Tätigkeit dienen müsse. Auch soweit in Rechtsprechung und Schrifttum aus Anlaß des konkreten Falles darauf abgestellt wird, daß die Tätigkeit "geeignet" sei, den Interessen des Unternehmens zu dienen (vgl ua BSG SozR 2200 § 555 Nr 5; Brackmann aa0 Seite 480n), ist der Begriff des Dienens iS einer Handlungstendenz gebraucht. Daß insoweit eine Sachlage gegeben sein muß, in welcher die Gesamtumstände das Vorliegen dem Unternehmer zu dienen bestimmter, arbeitnehmerähnlicher Tätigkeit anzeigen, hat das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 28. Juni 1984 (SozR 2200 § 539 Nr 100) erneut dargelegt. Es hat darin das für den Obstgartenbesitzer nützliche Selbsternten gekauften Obstes durch einen anderen als unversichert angesehen, weil es für die Zwecke des eigenen Haushalts erfolgte. Damit hat der Senat die mit dem - objektiv arbeitnehmerähnlichen - Tun verbundene Handlungstendenz als für die Bejahung des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 2 RVO ausschlaggebend angesehen. Verfolgt nämlich eine Person mit solchem Verhalten in Wirklichkeit wesentlich allein ihre eigenen Angelegenheiten, ist sie nicht mit fremdwirtschaftlicher Zweckbestimmung (BGH aaO) und somit nicht wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses, sondern eigenwirtschaftlich tätig und steht daher auch nicht nach § 539 Abs 2 RVO wie ein nach Abs 1 Nr 1 dieser Vorschrift Tätiger unter Versicherungsschutz.
Das Vorreiten der Klägerin und die damit verbundenen Vorbereitungs- und beabsichtigten nachgehenden Pflegehandlungen waren jedoch wesentlich allein geprägt durch die Wahrung ihrer Interessen. Sie sollten in ihrer Gesamtheit dem persönlichen beruflichen Fortkommen der Klägerin nutzen. Demgemäß wurde die Klägerin nicht wie eine im Unternehmen - bei dem sie sich bewarb - Beschäftigte, sondern als eine sich dort Vorstellende eigenwirtschaftlich tätig (ebenso BGH aaO). Bei dieser Sachlage ist der Senat in Fortführung seiner Rechtsprechung mit dem SG der Auffassung, daß die Klägerin bei den ihrem persönlichen Lebensbereich dienenden unfallauslösenden Handlungen nicht versichert war (ebenso BGH aaO).
Steht sonach fest, daß die Klägerin am 25. August 1982 "nicht auch nach anderen Vorschriften versichert" war (§ 654 Nr 1 RVO), hatte der Senat die subsidiäre Haftung der Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitsunfälle nach § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO zu prüfen. Er ist mit SG und LSG der Überzeugung, daß sowohl der Wortlaut als auch insbesondere der Gesetzeszweck dieser Vorschrift die Annahme von Versicherungsschutz im gegebenen Falle ausschließt.
§ 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO begründet für einen bestimmten Personenkreis ua Versicherungsschutz, wenn auf Aufforderung einer Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit eine andere Stelle aufgesucht wird. Da dem Vorstellen der Klägerin am 25. August 1982 vor dem Unfall eine solche Aufforderung nicht zugrunde lag, sind die Voraussetzungen für den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung bereits nach dem Wortlaut der Norm hier nicht gegeben. Der erkennende Senat hat zudem schon in seinem Urteil vom 31. Januar 1974 (SozR 2200 § 550 Nr 1) klargestellt, daß die Aufforderung durch eine Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit unerläßliche Voraussetzung für den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO ist, weil der Gesetzgeber diesen Schutz nicht auf Personen ausdehnen wollte, die ohne Aufforderung des Arbeitsamtes einen Unternehmer zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses aufsuchen. Dabei war für den Gesetzgeber bedeutsam, daß "es sich insoweit um versicherungsrechtlich schwierig abzugrenzende Tatbestände (handelt), zum anderen war aber auch der Gedanke maßgeblich, daß sich erhebliche Schwierigkeiten bei der Feststellung des für die Entschädigung solcher Umstände zuständigen Versicherungsträgers ergeben könnten" (BT-Drucks IV/938 - neu - S 4). Ein Vorstoß des Ausschusses für Arbeit und Sozialpolitik des Bundesrates (Drucks 94/1/63 S 1), solche Personen in den Schutz des § 539 Abs 1 Nr 4 RVO einzubeziehen, "die auf eine an sie persönlich gerichtete Aufforderung eines Unternehmers hin zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses Arbeits- oder Verträglichkeitsproben ablegen", ist von dem Bundesrat nicht aufgegriffen worden. Es steht daher außer Frage, daß Wortlaut und Zweck des § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO der Annahme von Versicherungsschutz im vorliegenden Falle entgegenstehen.
Die Klägerin vertritt allerdings die Auffassung, daß die beschriebene Eingrenzung des Versicherungsschutzes in § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO dem Recht auf freie Berufswahl (Art 12 Abs 1 GG) und dem Gleichheitsgebot des Art 3 Abs 1 GG zuwiderläuft. Sie hat diese Meinung nicht näher begründet. Sie überzeugt den Senat nicht.
Warum das Recht, den Arbeitsplatz frei zu wählen (Art 12 Abs 1 GG), hier betroffen sein könnte, ist nicht erkennbar. Abgesehen davon, daß die fraglichen Regeln des § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO objektiv keinen Staatsbürger hindern wollen und können, einen Arbeitgeber zur Anbahnung eines gewünschten Arbeitsverhältnisses aufzusuchen, ist auch nicht erkennbar, warum die Klägerin in konkreter Weise in der Ausübung dieses Grundrechtes beeinträchtigt worden sein könnte. Sie hat vielmehr alles, was der Wahl des Arbeitsplatzes diente, ungehindert durchgeführt.
Es ist ferner nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung hier nur Personen gewährt, welche zu dem unfallbringenden Verhalten durch eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die Bundesanstalt für Arbeit, veranlaßt worden sind. Da die Bundesanstalt für Arbeit nach den §§ 5, 13 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) vorrangig verpflichtet ist, Arbeitssuchende mit Arbeitgebern zur Begründung von Arbeitsverhältnissen zusammenzuführen und die im Leistungsbezug stehenden Personen dabei nicht ohne Mitwirkungsverpflichtung sind (s hierzu die Entscheidung des Senats BSGE 50, 177, 178), stand es im Ermessen des Gesetzgebers, insoweit den Versicherungsschutz auf diejenigen Handlungen zu beschränken, welche fremdbestimmt vorgenommen werden. Dadurch wird nicht, wie die Klägerin annimmt, Gleiches ungleich behandelt. Vielmehr beurteilt der Gesetzgeber aus anerkennenswerten Gründen das Verhalten der von staatlichen Dienststellen veranlaßten Personen anders als das von solchen Staatsbürgern, deren Handeln auf eigener Initiative beruht (vgl hierzu BVerfGE 50, 177 = SozR 5750 Art 2 § 9a Nr 8; BVerfG SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 7.
Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen