Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozeßführungsbefugnis. Feststellung. Arbeitsunfall. arbeitnehmerähnliche Beschäftigung. Gefälligkeit. Versicherungsschutz
Orientierungssatz
1. Daß der Verletzte seine Ansprüche erst zu einem Zeitpunkt geltend macht, zu dem die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 Abs 1 BGB möglicherweise bereits abgelaufen war, steht der Anwendung des § 639 S 1 RVO nicht entgegen; denn die Verjährung beseitigt nicht den Anspruch, sondern gibt dem Schuldner nur das Recht, die Leistung zu verweigern (§ 222 Abs 1 BGB). Für die in § 639 S 1 RVO geregelte Feststellungs- bzw Prozeßführungsbefugnis des Unternehmers (Prozeßstandschaft) genügt es, daß deren Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz vorgelegen haben.
2. Dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO kann nicht entgegengehalten werden, der Verletzte sei "nur aus Gefälligkeit" tätig geworden. Den privaten Beziehungen zwischen dem Tätigwerdenden und dem Unternehmer ist ebenso wie der Zeitdauer der Beschäftigung lediglich im Rahmen der Gesamtumstände des Einzelfalles - vor allem bei Hilfeleistungen unter Verwandten und bei Tätigkeiten von Vereinsmitgliedern - die ihr zukommende, nicht aber eine selbständige Bedeutung beizumessen (vgl BSG vom 25.10.1989 - 2 RU 4/89 = SozR 2200 § 539 Nr 134).
Normenkette
RVO § 639 S 1, §§ 636, 638 Abs 1, § 539 Abs 2; BGB § 852 Abs 1, § 222 Abs 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beigeladene zu 1) (Verletzter) am 8. März 1985 einen Arbeitsunfall erlitten hat, insbesondere, ob er an diesem Tag für die Kläger arbeitnehmerähnlich tätig geworden ist.
Die Kläger sind Eigentümer eines Anwesens in Wolfsheim, auf dem sich ein renovierungsbedürftiges Wohnhaus und eine baufällige Scheune befinden, die ihrerseits an eine auf dem Nachbargrundstück befindliche Scheune angrenzt. Die Scheune der Kläger sollte über einen längeren Zeitraum - überwiegend in Eigenleistung, teilweise mit fremder Hilfe - abgerissen werden. Anläßlich ihrer Beschäftigung als Sozialpädagogin lernte die Klägerin zu 1) den seinerzeit 64-jährigen Verletzten kennen und kümmerte sich ua um dessen Rentenangelegenheiten. Der Verletzte (gelernter Maurer und Zimmermann) bot der Klägerin an, ihr und ihrem Ehemann (Kläger zu 2) bei den auf dem Anwesen anfallenden Arbeiten zu helfen. Dieses Angebot nahmen die Kläger an, ein Entgelt wurde nicht vereinbart und nicht gezahlt.
Am 8. März 1985 begann der Verletzte gegen 10.00 Uhr im Beisein des Klägers zu 2) mit Renovierungsarbeiten am Wohnhaus. Die anschließenden Aufräumarbeiten an der Scheune sollten bis voraussichtlich 15.00 oder 16.00 Uhr andauern. Gegen 13.45 Uhr stürzte plötzlich der Giebel der Nachbarscheune ein, wodurch der Verletzte schwere Knochenbrüche erlitt. Wegen der Unfallfolgen befand er sich längere Zeit in stationärer und anschließend ambulanter Behandlung. Die Kosten der Heilbehandlung trug die Beigeladene zu 2) (Krankenkasse), die wegen dieser - ihrer Ansicht nach unfallbedingten - Kosten Ersatz von der Beklagten verlangt.
Mit Bescheid vom 23. September 1986 lehnte es der Beklagte gegenüber dem Verletzten ab, den Unfall vom 8. März 1985 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Es habe sich lediglich um eine Gefälligkeitsleistung gehandelt, nicht dagegen um eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit iS von § 539 Abs 2 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Gegen diese Ablehnung hat der Verletzte keinen Rechtsbehelf eingelegt.
Den Klägern wurde dieser Bescheid nicht bekanntgegeben. Nachdem jedoch deren private Haftpflichtversicherung über die Krankenkasse Kenntnis von dem Bescheid erlangt hatte, legte diese am 14. November 1986 im Namen der Kläger Widerspruch ein und verwies insoweit auf den Inhalt des Versicherungsvertrages. Am 11. Februar 1987 teilten die Kläger dem Beklagten mit, daß sie den von der Concordia-Versicherungsgesellschaft eingelegten Widerspruch weiterverfolgten; ergänzend hierzu legten sie am 16. März 1987 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. April 1987 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger als unzulässig zurück, da diese nicht befugt seien, das Feststellungsverfahren zu betreiben. Nach § 639 Satz 1 RVO könnten haftungsprivilegierte Personen nur dann die Feststellung, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, verlangen, wenn sie von dem Verletzten, dessen Angehörigen oder Hinterbliebenen in Anspruch genommen würden, nicht jedoch, wenn ein Dritter - hier die Krankenkasse - sie in Anspruch nehme.
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid vom 23. September 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1987 aufgehoben und festgestellt, daß der Unfall des Verletzten vom 8. März 1985 ein vom Beklagten zu entschädigender Arbeitsunfall war. Die Kläger seien befugt gewesen, diese Feststellung zu betreiben. Zum Unfallzeitpunkt sei der Verletzte wie ein Beschäftigter tätig geworden (Urteil vom 15. April 1988).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die Befugnis der Kläger, das Feststellungsverfahren zu betreiben, sei im vorliegenden Fall in zweifacher Hinsicht gegeben. Zum einen stehe der in § 639 RVO geregelten Prozeßstandschaft nicht entgegen, daß die Kläger nicht direkt vom Verletzten in Anspruch genommen würden; denn das Haftungsprivileg aus § 636 RVO könnte nicht dadurch beseitigt werden, daß Ansprüche des Verletzten kraft Gesetzes (§ 116 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - SGB X) auf die Krankenkasse übergegangen seien. Auch der Umstand, daß sich die Krankenkasse direkt an die Concordia-Versicherung gewandt habe, ändere hieran nichts. Zum anderen ergebe sich die Prozeßführungsbefugnis der Kläger daraus, daß der Verletzte mit Schreiben vom 1. Juli 1988 Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegenüber den Klägern geltend gemacht habe. Es genüge, daß die Voraussetzungen des § 639 RVO zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorgelegen haben. Auch hätten die Kläger die Verjährungseinrede nicht erhoben. Schließlich sei auch der Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid vom 23. September 1986 nicht verspätet gewesen; denn es sei davon auszugehen, daß dieser - an den Verletzten gerichtete - Bescheid den Klägern nicht vor Februar 1987 bekannt gewesen sei, so daß die Widerspruchsfrist ohne deren Verschulden (§ 639 Satz 2 RVO) verstrichen sei. In der Sache selbst habe das SG zutreffend entschieden, daß der Verletzte bei einer nach § 539 Abs 2 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versicherten Tätigkeit verunglückt sei. Daß es sich dabei um eine Gefälligkeitsleistung gehandelt habe, stehe dem Versicherungsschutz nicht entgegen (Urteil vom 2. August 1989).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend, das angefochtene Urteil beruhe auf einer unzutreffenden Interpretation des § 639 RVO. Das LSG habe verkannt, daß die Krankenkasse nicht zu den Forderungsberechtigten im Sinne der genannten Vorschrift gehöre. Die Schädiger hätten nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nur dann ein selbständiges Betreibungsrecht, wenn sie von dem Verletzten, dessen Angehörigen oder Hinterbliebenen in Anspruch genommen würden. Würde man den Schädigern dagegen auch dann die Berechtigung aus § 639 RVO einräumen, wenn sie von einer Krankenkasse aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) in Anspruch genommen würden, so hätte dies unhaltbare und vom Gesetzgeber mit Sicherheit nicht gewollte Konsequenzen: Im Ergebnis würde dann nämlich die an sich in einem zwischen Krankenkasse und Unfallversicherungsträger auszutragenden Erstattungsstreit zu klärende Frage, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, einem Dritten übertragen. Auch im Hinblick auf den vom Verletzten mit Schreiben vom 1. Juli 1988 erhobenen Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruch ergäbe sich für die Kläger keine Prozeßführungsbefugnis; denn dieser Anspruch sei bereits verjährt gewesen. Zumindest aber könnten sich die Kläger auf Verjährung berufen, was ihrer Prozeßführungsbefugnis aus § 639 RVO ebenfalls entgegenstehe.
Aber selbst wenn man mit dem LSG von einer Prozeßführungsbefugnis der Kläger ausgehe, sei deren Klage unbegründet. Die Kläger seien nämlich bereits seit Dezember 1985 mit dem Ersatzanspruch der Krankenkasse konfrontiert gewesen; sie hätten deshalb innerhalb einer angemessenen Frist Widerspruch gegen den Bescheid vom 23. September 1986 einlegen müssen, nicht aber erst nach Ablauf eines weiteren Jahres.
Im übrigen habe das LSG die Voraussetzungen für einen Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO zu Unrecht bejaht. Der Beigeladene zu 1) sei nicht arbeitnehmerähnlich tätig geworden. Nach den Umständen des vorliegenden Falles sei vielmehr davon auszugehen, daß es sich bei der unfallbringenden Tätigkeit um eine Art freundschaftliche Gefälligkeitsleistung gehandelt habe. Der Umfang der zu leistenden Arbeit von etwa fünf Stunden habe auch dem entsprochen, was aufgrund der Beziehungen zwischen den Beteiligten habe erwartet werden können.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland- Pfalz vom 2. August 1989 sowie das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 15. April 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen ebenfalls,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kläger und die Beigeladenen halten die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist unbegründet.
Zu Recht haben das SG und das LSG entschieden, daß der Verletzte am 8. März 1985 einen Arbeitsunfall erlitten hat, als er mit Renovierungs- und Aufräumarbeiten für die Kläger tätig geworden ist.
Diese Feststellung konnten die Kläger anstelle des Verletzten im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren verlangen. § 639 Satz 1 RVO bestimmt, daß Personen, deren Ersatzpflicht durch § 636 oder § 637 RVO beschränkt ist und von denen der Verletzte, seine Angehörigen oder Hinterbliebenen Schadensersatz fordern, statt des Berechtigten die Feststellung nach § 638 Abs 1 RVO beantragen oder das entsprechende Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) betreiben können. Die Voraussetzungen der genannten Vorschrift sind hier erfüllt. Die Kläger gehörten zum Unfallzeitpunkt als Unternehmer nicht gewerbsmäßiger Bauarbeiten (§§ 657 Abs 1 Nr 7, 658 Abs 2 Nr 1 RVO) zu den haftungsprivilegierten Personen des § 636 Abs 1 Satz 1 RVO, deren Haftung für Schadensersatzansprüche bei Personenschäden, die ein Arbeitsunfall verursacht hat, beschränkt ist. Sie werden auch wegen eines Personenschadens vom Verletzten in Anspruch genommen. Daß der Verletzte seine Ansprüche erst während des Berufungsverfahrens vor dem LSG (Schreiben vom 1. Juli 1988) geltend gemacht hat, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 Abs 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) möglicherweise bereits abgelaufen war, steht der Anwendung des § 639 Satz 1 RVO nicht entgegen; denn die Verjährung beseitigt nicht den Anspruch, sondern gibt dem Schuldner nur das Recht, die Leistung zu verweigern (§ 222 Abs 1 BGB). Diese Einrede haben die Kläger nicht erhoben.
Für die in § 639 Satz 1 RVO geregelte Feststellungs- bzw Prozeßführungsbefugnis des Unternehmers (Prozeßstandschaft) genügt es ferner, daß deren Voraussetzungen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz vorgelegen haben (vgl BGHZ 31, 279, 281; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl, Fußn 34 zu § 46 IV, die sogar meinen, es komme auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, also uU auch in der Revisionsinstanz an; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 234 m I). Entgegen der Meinung der Revision war die Prozeßführungsbefugnis der Kläger deshalb rückwirkend gegeben, nachdem der Verletzte seine Forderungen gegenüber den Klägern geltend gemacht hatte. Den Klägern kann auch nicht entgegengehalten werden, sie hätten die Widerspruchsfrist bezüglich des ablehnenden Bescheides vom 23. September 1986 versäumt. § 639 Satz 2 RVO schreibt nämlich ausdrücklich vor, daß der Ablauf von Fristen nicht gegen die das Verfahren betreibenden Personen wirkt, wenn diese ohne deren Verschulden verstrichen sind. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) erhielten die Kläger nicht vor Februar 1987 Kenntnis von dem - an den Verletzten gerichteten - Bescheid, so daß ihr Widerspruch vom 11. Februar 1987 nicht verspätet war.
Ob die Prozeßführungsbefugnis der Kläger auch deshalb gegeben wäre, weil sie von der Krankenkasse aus übergegangenem Recht in Anspruch genommen werden, braucht deshalb nicht entschieden zu werden.
Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, daß der Verletzte am 8. März 1985 einen Arbeitsunfall erlitten hat, weil er für die Kläger wie ein Beschäftigter tätig geworden ist (§ 539 Abs 2 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO) und bei dieser Tätigkeit verunglückt ist (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats genügt es ua für den auf § 539 Abs 2 RVO beruhenden Versicherungsschutz, daß es sich um eine Tätigkeit handelt, die ihrer Art nach von Personen in einem Abhängigkeitsverhältnis verrichtet werden könnte, wirtschaftlichen Wert besitzt und dem anderen Unternehmen dient (vgl Brackmann aaO S 475 n ff mit zahlreichen Nachweisen). Diese Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall erfüllt. Dem Versicherungsschutz kann insbesondere nicht entgegengehalten werden, der Verletzte sei "nur aus Gefälligkeit" tätig geworden. Darauf hat der Senat stets hingewiesen (vgl BSGE 5, 168, 172; 18, 143, 147; 29, 159, 160; Brackmann aaO S 475 t ff). Den privaten Beziehungen zwischen dem Tätigwerdenden und dem Unternehmer hat der Senat ebenso wie der Zeitdauer der Beschäftigung lediglich im Rahmen der Gesamtumstände des Einzelfalles - vor allem bei Hilfeleistungen unter Verwandten und bei Tätigkeiten von Vereinsmitgliedern - die ihr zukommende, nicht aber eine selbständige Bedeutung beigemessen (vgl zuletzt Urteil vom 25. Oktober 1989 - 2 RU 4/89 -). Nach dieser Rechtsprechung kann bei einer Hilfeleistung unter Bekannten von etwa fünfstündiger Dauer keinesfalls von einer unversicherten Tätigkeit ausgegangen werden.
Die Revision des Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1667335 |
BB 1990, 1703 |